Soll Anne Frank Niederländerin werden?
8. Oktober 2004"Das Tagebuch der Anne Frank" ist eines der meistgelesenen Bücher des 20. Jahrhunderts. Für den holländischen TV-Sender Katholieke Radio Omroep (KRO) Grund genug, Anne Frank den Fernsehzuschauern am 11. Oktober 2004 in der Show "Größter Niederländer aller Zeiten" zur Wahl zu stellen - 75 Jahre nach ihrer Geburt in Frankfurt am Main und knapp 60 Jahre nach ihrem Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Vor der Verschleppung ins KZ hatte sie in einem Versteck in Amsterdam von 1942 bis 1944 ihr berühmtes Tagebuch geschrieben. Der KRO hat deshalb eine Initiative zur nachträglichen Einbürgerin Anne Franks gestartet.
"Wir betrachten sie als niederländisch"
Das niederländische Justizministerium steht der "sehr sympathischen" Anfrage des Parlaments, Anne Frank - die 1941 ihre deutsche Staatsbürgerschaft vom Nazi-Regime aberkannt bekam - posthum die niederländische Staatsangehörigkeit zu verleihen, zwar "sehr wohlwollend" gegenüber. "Aber das niederländische Staatsangehörigkeitsrecht erlaubt eine Einbürgerung nach dem Tod nicht. Wir betrachten sie trotzdem als niederländisch", sagt eine Sprecherin des Anne Frank Hauses, Amsterdam. "Sie hat auf Niederländisch geschrieben, sie hat in Niederländisch gedacht. Sie war so niederländisch, wie sie nur sein könnte."
"Berühmteste Tochter Frankfurts"
Auch in der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main teilt man diese Einschätzung: "Anne Frank hat sich in ihrem Tagebuch zu ihrer Sehnsucht bekannt, nach dem Krieg Niederländerin zu werden. Das ist schon eine sehr starke Aussage, von der man sich leiten lassen sollte", sagt Geschäftsführerin Susanne Wiegmann im Gespräch mit DW-WORLD. Dennoch würde sie - mit einem Augenzwinkern und in Analogie zu "Frankfurts berühmtestem Sohn" Johann Wolfgang von Goethe - Anne Frank durchaus als "berühmteste Tochter Frankfurts" bezeichnen.
Innenministerium: Anne Frank ist Deutsche
Für das Bundesinnenministerium ist Anne Frank jedenfalls eine Deutsche - und das ganz ohne Augenzwinkern. "Sie war bis zu ihrem Tod Deutsche, weil die Aberkennung der Staatsbürgerschaft durch das Nazi-Regime nichtig gewesen ist", sagt Rainer Lingenthal, Sprecher des Bundesinnenministeriums.
In die Auseinandersetzung um die Staatsangehörigkeit Anne Franks mischen sich aber auch vorsichtige Töne: "Das ist eine Debatte, vor der wir nur warnen können. Sie führt uns weg von den Idealen, die Anne Frank in ihrem Tagebuch beschrieben hat", sagt Thomas Heppener, Vorstandsvorsitzender des Anne Frank Zentrums Berlin, im Gespräch mit DW-WORLD. Der Idee, Anne Frank posthum in die Niederlande einzubürgern, steht Heppener ebenfalls sehr skeptisch gegenüber: "Das käme dem Versuch gleich, die Schwierigkeiten der Geschichte nachträglich zu glätten."
Fernsehshow als informative Unterhaltung
Trotzdem begrüßt Heppener die Entscheidung, Anne Frank als potenzielle "Größte Niederländerin aller Zeiten" in einer Unterhaltungs-Show zur Wahl zu stellen: "Man kann damit einfach Leute erreichen, die sich sonst kaum für ihr Schicksal interessieren würden." Natürlich leisteten solche Fernsehshows weder eine differenzierte Darstellung der Persönlichkeit Anne Franks, noch könnten sie das Lesen des Tagebuchs ersetzen. "Aber vielleicht können sie einen Anstoß dazu geben."
In Deutschland nicht unter den Top 100
Die Möglichkeit dazu besteht am 11. Oktober 2004 ab 20.30 Uhr auf dem niederländischen Kanal Nederland 1: Dann wird das holländische Fernsehpublikum entscheiden, ob Anne Frank tatsächlich die "Größte Niederländerin aller Zeiten" ist und sich gegen Konkurrenten wie den Maler Vincent van Gogh und den Fußballstar Johan Cruyff durchsetzen kann. Bei der ZDF-Aktion "Unsere Besten - Die 100 größten Deutschen" schaffte Anne Frank es übrigens nur auf Platz 134.