Sophia Loren in oscarreifer Rolle
24. November 2020Ein schlichter Nachsatz im Nachspann der Kinoproduktion "Du hast das Leben vor dir" deutet auf schwierige Umstände bei der Fertigstellung hin: "Dieser Film entstand während der COVID-19-Pandemie 2020. Regisseur und Produzenten danken allen Beteiligten, dass dieser Film Wirklichkeit geworden ist."
Drehbuch und Regie des Films "Du hast das Leben vor dir" lagen in der Verantwortung des jüngsten Sohns von Sophia Loren, Edoardo Ponti (47). Seit 1957 war sie mit dessen Vater Carlo Ponti verheiratet. Der 2007 verstorbene, weltberühmte italienische Filmproduzent entdeckte die junge Neapolitanerin 1950 bei einer Miss-Wahl in Rom. Da war sie gerade mal 16.
Ponti erkannte Sophias außergewöhnliches Talent, ließ sie Schauspielunterricht nehmen und machte sie zu einer Leinwand-Ikone mit Sexappeal. In der Folge drehte "die Loren" mehr als 100 Filme mit den größten Hollywood-Stars.
Als Regisseur: Sohn Edoardo Ponti
Zehn Jahre hatte die international bekannte Leinwand-Diva, die zwei Oscar-Statuen in ihrem luxuriösen Genfer Domizil stehen hat, jetzt keinen Kinofilm mehr gedreht. Ihr gefielen die Drehbuchangebote einfach nicht. Sohn Edoardo holte sie wieder vor die Kamera - im Alter von 86 Jahren.
Gedreht wurde im Spätsommer 2019 in der süditalienischen Hafenstadt Bari. Für Ponti jun. ist es bereits die dritte Filmproduktion mit seiner berühmten Mutter. "Sie macht das jeden Tag, jeden Take, jeden Moment der Dreharbeiten mit einer Begeisterung und Spontaneität, als würde sie ihren ersten Film drehen", schwärmt er von der Zusammenarbeit.
"Und er kennt mich so gut", gibt sie lachend zurück. "Er weiß genau, wie er den richtigen Knopf drücken muss, damit ich das umsetze, was er im Kopf hat." Mit ihm als Regisseur fühle sie sich am Set gut aufgehoben.
Und so konnte sie die Rolle ihres Lebens spielen: "Der Grund, warum ich diesen Film gemacht habe, ist, dass Madame Rosa mich sehr an meine Mutter erinnert: Innen war sie fragil und verletzlich, aber für andere wirkte sie stark", erzählt sie beim gemeinsamen TV-Interview in der US-amerikanischen CBS-Morning-Show.
Neuverfilmung in Jetztzeit verlegt
Grundlage für das Drehbuch ist Romain Garys Roman "Du hast das Leben vor dir" ("La vie devant soi", 1975). Das Buch rief damals einen Skandal in Frankreich hervor. Der Erfolgsautor hatte damit zum zweiten Mal den renommierten Literaturpreis Prix Goncourt gewonnen - unrechtmäßig, wie sich später herausstellte, unter dem Pseudonym Emile Ajar.
1977 wurde der Roman fürs Kino verfilmt, mit Simone Signoret in der Rolle der "Madame Rosa", Regie führte damals der israelische Regisseur Moshé Mizrahi. 1978 gewann die französische Produktion den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Signoret wurde im gleichen Jahr mit dem César als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet.
Statt im Kino läuft die literarische Neuverfilmung jetzt bei Netflix. Regisseur Ponti hat die Handlung von Paris nach Süditalien verlegt. Die Flüchtlingskrise grundiert die Geschichte zeitgemäß.
Die Premiere fand Anfang 2020 noch vor Publikum in Rom statt, aber dann machte die Corona-Pandemie dem Weltvertrieb einen Strich durch die Rechnung. Ein Kinoeinsatz in den USA - für eine Oscar-Nominierung nötig - war nur streng limitiert möglich.
Der Streaming-Dienst Netflix, von Anfang an mit im Boot, strahlt den Film jetzt seit November aus. Der weltweite Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Fast eine halbe Million Zuschauer haben das Melodram bereits gesehen. Es ist rau, herzergreifend, bewegend.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive eines muslimischen Flüchtlingsjungen aus dem Senegal, der in Süditalien gestrandet ist. Mit Diebstahl und Drogendeals hält er sich einigermaßen über Wasser. "Ich bin 12. Ich heiße Mohammed. Alle nennen mich Momò", hört man den afrikanischen Jungen im Off auf Italienisch erzählen. "Ich bin Waise. Als ich klein war, übergab mich das Jugendamt an Dr. Coen."
Aber der jüdische Arzt Dr. Coen ist alt und zu müde für die Betreuung rebellischer Straßenkinder. Er bringt den Jungen zu Madame Rosa, die auch Patientin bei ihm ist. Sie kennt diesen Momò bereits: Auf der Straße hat er ihr die Handtasche gestohlen.
Oscarreife Schauspielleistung
Madame Rosa ist eine alternde Schönheit, die sich als ehemalige Prostituierte um Huren-Kinder kümmert. Filmstar Sophia Loren spielt sie in verschlissener Kittelschürze mit bemerkenswerter Grandezza und auflodernder Leidenschaft. Die Mütter haben keine Zeit für ihren ungewollten Nachwuchs. Sie müssen hart anschaffen gehen, um auch noch das Geld für die Betreuung aufzubringen.
Loren, 1934 in einem Vorort der italienischen Hafenstadt Neapel geboren, kommt, wie Momò im Film, aus ärmlichen Verhältnissen. Armut, Hunger und Krieg hat sie als Kind am eigenen Leib erlebt. Einfühlsam, aber gleichzeitig mit strenger Hand, bringt sie als Madame Rosa den Jungen beharrlich dazu, ihre Regeln für ein Zusammenleben in der Ersatzfamilie zu akzeptieren.
Gespielt wird Momò von Ibrahima Gueye, der vorher noch nie vor der Kamera gestanden hat: authentisch, altklug, trotzig und mit kindlicher Empathie. Als der Junge zufällig die tätowierte KZ-Nummer auf Rosas Arm entdeckt, erzählt sie ihm behutsam von ihren schrecklichen Kindheitserfahrungen in Auschwitz. KZ-Ärzte hatten sie mit medizinischen Versuchen gequält.
Altersrolle als Holocaust-Überlebende
Wenn der Teufel der Erinnerungen sie nicht schlafen lässt, verkriecht sich Madame Rosa im Kellerverlies des Mietshauses. "In Auschwitz versteckte ich mich immer unter der Baracke, wenn Appell war", berichtet sie dem jungen Afrikaner. Ihr zerwühltes graues Haar und ihr verstörter Blick lassen ahnen, was vor ihrem inneren Auge abläuft. "Das war mein Unterschlupf, da fühlte ich mich sicher. Ich war so alt wie du, Momò."
Familiäre Geborgenheit braucht jeder in diesem melodramatischen Film: die Kinder, die Prostituierten, die jungen Drogendealer - und der muslimische Teppichhändler, bei dem Madame Rosa gern ihren etwas verblichenen Charme einsetzt.
Die bittere Erfahrung, Bürger zweiter Klasse zu sein, kennen sie alle. Grandios als couragierte Sexarbeiterin Lola, die ihren Sohn auch von Madame Rosa betreuen lässt: die spanische Transgender-Schauspielerin Abril Zamora, ein Star der LGBTQ-Szene.
Italiens berühmtester Filmstar Sophia Loren hat ihr Image als glamouröse Diva für diese Filmgeschichte abgestreift. Der jüdischen Holocaust-Überlebenden Rosa verleiht sie - mit kleinen Gesten und Haltung - Würde und eine alterslose Schönheit. Mit dieser Rolle kann sie sich berechtigte Hoffnung auf einen dritten Oscar in ihrer 70-jährigen Schauspielkarriere machen, wie ihr Filmkritiker und Publikum attestieren.
"Es ist nicht so wichtig, wie du aussiehst", sagt Loren in einem aktuellen Interview mit dem US-Sender CBS. "Wichtiger ist, was du zu geben hast - in deinem Herzen und in deiner Seele. Das zählt im Leben." Den Netflix-Zuschauern rund um den Erdball gibt "La Mamma" Sophia Loren genau das - anrührend und mit grandioser schauspielerischer Intensität. Zum Heulen schön.