Vom Kurort zur Touristenhochburg
28. Januar 2014Tatjana hat es sich mit ihrer Schwiegertochter Liliana auf der Terrasse der "Goldenen Ähre", dem bekannten Sanatorium von Sotschi bequem gemacht. Die Temperaturen sind angenehm mild. Tatjana wohnt in Moskau, stammt aber ursprünglich aus der Ukraine, ihre Schwiegertochter Liliana wohnt mit Tatjanas Sohn in Kiew. Die beiden sind zum Urlaub an die Schwarzmeerstadt gekommen. "Als ich ein kleines Kind war, habe ich immer den Satz gehört: Wenn du dein ganzes Leben nicht in Sotschi gewesen bist, dann war dein Leben umsonst", sagt die 54-jährige Tatjana, die völlig begeistert ist von ihrem ersten Aufenthalt in der Olympiastadt.
Sotschi ist für viele Russen noch immer ein Sehnsuchtsort. Auf einem Breitengrad mit der Côte d'Azur gelegen, bietet Sotschi das, was viele Einwohner aus Moskau oder St. Petersburg nicht kennen: Strand, Meer, angenehmes Klima, Berge und das alles an einem Ort vereint.
Charakter als Kurstadt verloren
Auch die Sanatorien, in denen Tatjana und Liliana ihren Urlaub verbringen, sind typisch für die Schwarzmeerstadt. Zu Sowjetzeiten gehörten die Sanatorien Betrieben, die ihre Arbeiter zur Erholung nach Sotschi schickten. Die Kuren dauerten in der Regel drei Wochen und standen den einfachen Arbeitern oder Bauern zur Verfügung. An diese Zeiten kann sich Hamlet Watjan noch gut erinnern. Schon als zwölfjähriges Kind weilte er in den 1960er Jahren mit seinen Eltern auf Kur am Schwarzen Meer. Heute trägt der 65-Jährige die Haare schlohweiß und erzählt in seinem Büro in der "Goldenen Ähre" mit leuchtenden Zeiten von der Vergangenheit. Wenn er auf die jüngere Entwicklung von Sotschi blickt, denkt er nicht ganz so positiv: "Sotschi hat den Charakter einer Kurstadt verloren. Früher haben hier 350.000 Menschen gelebt. Das war die optimale Bevölkerungszahl für eine ruhige Kurstadt. Jetzt sind es schon 600.000", sagt der Direktor der "Goldenen Ähre". Sotschi habe sich zu einer richtigen Metropole am Schwarzen Meer entwickelt. Es sei unheimlich viel gebaut worden. In Sachen Infrastuktur habe Sotschi sehr stark profitiert, aber die Bebauung habe auch vieles zerstört. Früher habe jeder Einwohner von Sotschi 150 Quadratmeter Grünfläche gehabt, heute seien es nur noch 30 Quadratmeter, belegt Watjan die Veränderung der Stadt mit Zahlen.
"Unsere größte Sorge ist, ob Sotschi auch in Zukunft noch als Kurort funktioniert", sagt der rüstige Direktor fragend. Man sei es gewohnt gewesen, dass die Kurgäste für 20 bis 24 Tage kamen und sich erholten. "Jetzt kommen die Besucher nach Sotschi wie zu einem normalen Urlaubsort in Spanien oder der Türkei und bleiben für fünf bis sieben Tage, um Spaß zu haben". Auch die "Goldene Ähre" ist wie so vieles in Sotschi massiv renoviert und ausgebaut worden. Während der Olympischen Spiele wird das Sanatorium als Hotel für Olympia-Sponsoren dienen. Die großflächigen Bauarbeiten haben Spuren hinterlassen. Die Besucherzahlen in den letzten Jahren waren rückläufig. Man hofft, dass sich nach den Spielen - wenn die Bauarbeiten abgeschlossen und alle Straßen fertig sind - alles zum Guten wendet.
Skifahren in den Subtropen
In Zukunft soll die Region noch für mehr als nur gute Luft und angenehmes Klima stehen: Skifahren und Wintersport. Denn während es in Sotschi selbst im Winter nicht richtig kalt wird, erreicht man in nur 70 Kilometern Krasnaja Poljana und die Berge. Hier ist binnen kürzester Zeit ein ganzes Bergdorf aus dem Boden gestampft worden. Hotel reiht sich an Hotel. LKW verstopfen die Straßen. Überall wird noch eifrig gebaut, die Zeit drängt, denn hier finden während der Winterspiele die alpinen Skiwettbewerbe statt. Und außerdem soll hier Russlands erstes Skiresort entstehen, welches internationalen Ansprüchen genügt. Damit die Moskowiter nicht mehr nach Österreich oder die Schweiz reisen müssen. Denn schon nach zwei Stunden Flugzeit landet man aus Moskau in Sotschi und ist nach nur weiteren 30 Minuten Zugfahrt in den Bergen des Kaukasus auf 3000 Metern Höhe.
Harald Bürkle steht im Eingangsbereich des Restaurants des Radisson Blu Hotels in Rosa Khutor. Das Hotel ist modern eingerichtet, das Design nach westeuropäischem Vorbild. Große Lampen hängen über den Esstischen. "So ein Resort von dieser Qualität gab es vorher nicht in Russland", berichtet er. Für viele russische Bürger sei es eine tolle Sache, ein Skiresort im eigenen Land zu haben, ohne nach Österreich fliegen zu müssen und ein Visum zu beantragen, sagt der 38-jährige Hoteldirektor. Bürkles oberfränkischer Dialekt identifiziert ihn gleich als Deutschen. Er ist zuversichtlich, dass sich die Region als Skiort etabliert. "85 Prozent unserer Gäste werden Russen sein. Bei 140 Millionen Russen gibt es genügend Potential, um ein Skiresort zu füllen".
Zielgruppe sind russische Touristen
Nur für den Sommer müsse man sich etwas überlegen. Die Russen seien keine Wandernation, aber das werde sich alles schon entwickeln. Mit westeuropäischen Gästen rechnet er hingegen nicht. Die Wege nach Österreich, Frankreich oder die Schweiz in den Schnee seien kürzer und außerdem gebe es aus Westeuropa keine Direktflüge nach Sotschi. Hinzu komme das Visaproblem. Alle Touristen, die nach Russland einreisen wollen, müssen vorab ein Visum beantragen. Das kostet Zeit, Geld und ist aufwendig.
Ein anderer, der ebenfalls auf russische Skitouristen in der Zukunft setzt, ist Jean-Marc Farini. Der Franzose betreibt das Skigebiet, denn seine französische Firma Compagnie des Alpes hat den Zuschlag dafür bekommen. Er schaut aus dem Fenster in seinem Büro im Rathaus von Rosa Khutor. Liebevoll haben sie dem markanten Rathausturm des neuen Skidorfs schon den Namen "Big Ben" gegeben. Bedenken, dass sich die Investitionen von 1,7 Milliarden Euro für das Resort rechnen werden, hat er nicht. "Aktuell gibt es in Russland doch nur zwei bis drei Prozent, die Ski fahren. In Europa sind es hingegen 15-20 Prozent." Das Potential sei enorm.
Bisher stehen noch viele Zimmer in Rosa Khutor leer. Vieles wirkt noch steril und nüchtern. Die Lifte sind aufgrund einer technischen Wartung noch nicht im Betrieb. Doch Farini bringt das nicht ins Schwitzen. "Wir machen hier keine verrückte Sachen nur für 15 Tage Olympia", entgegnet der 39-Jährige. Man sei nicht an weißen Elefanten interessiert, die nach dem Sportereignis ungenutzt in der Gegend herumstehen. Alles was man in Rosa Khutor plane, mache langfristig Sinn. Doch richtig interessant wird es in Sotschi erst, wenn die Olympia-Gäste wieder abgereist sind und der Olympia-Zirkus weiterzieht. Dann wird sich klären, ob der Wandel von Sotschi erfolgreich sein wird.