Staunen über Hartz IV
2. September 2004Während in Deutschland in den vergangenen Wochen Tausende wieder mit der Losung "Wir sind das Volk!" auf die Straßen gegangen sind, können die Nachbarn Deutschlands diese Empörung nur begrenzt verstehen. Auslandskorrespondenten in Deutschland sind sich einig, nirgendwo sonst in Europa ist der Bürger so gut abgesichert wie in Deutschland, die Deutschen jammerten auf hohem Niveau.
"Ein Privileg genommen"
Bertrand Benoit ist Berlin-Korrespondent der "Financial Times London": "Das Deutsche System ist im Vergleich zu allen anderen Staaten Europas überaus großzügig. In Deutschland wird man ab nächstem Januar nicht mehr uneingeschränkt zum Arbeitslosengeld hinzuverdienen dürfen. Damit werden in Deutschland ähnliche Konditionen wie in den restlichen Ländern Europas geschaffen."
So traditionell pessimistisch die Deutschen auch sind, in der Vergangenheit haben sich die Bürger in Deutschland immer auf den Staat verlassen. Bedingt durch die Geschichte im Osten mehr als im Westen. Nichtsdestoweniger ist der Lebensstandard in Deutschland immer noch sehr hoch, sagt Betrand Benoit: "Die Menschen haben regelrecht darauf bestanden, dass der deutsche Staat für den Erhalt ihres Lebensstandards aufkommt, lange nachdem sie schon ihre Arbeit verloren hatten. Das wird sich nun ändern. Nun haben sie natürlich das Gefühl, dass ihnen ein Privileg weg genommen wird. Man darf hier die kulturelle Dimension dieses Gefühls nicht außer Acht lassen: Die Deutschen sind einfach daran gewöhnt, dass ihr Staat ihnen einen gewissen
Lebensstandard garantiert."
Abschied vom "Motor Europas"
Pierre Bocef sitzt ebenfalls in Berlin und schreibt für "Le Figaro". Bocef sieht, dass es schwer ist, den hohen Lebensstandard zu halten. Vor allem, wenn die wirtschaftliche Situation nicht mehr wie vor 20 Jahren ist. Für Bocef ist die Zeit, in der Deutschland der wirtschaftliche Motor Europas war, vorbei: "Deutschland war mal der wirtschaftliche Motor des Kontinents. Aber ich glaube, das ist nicht mehr der Fall. Das Blatt könnte sich wieder wenden, wenn das Wachstum zunimmt, aber im Moment ist das wirtschaftliche Wachstum in Frankreich einen Tick besser als in Deutschland. Frankreich musste nie die Kosten einer Wiedervereinigung tragen."
Die französischen Politiker verfolgten gebannt die Vorgänge in Deutschland so Bocef, als ahnten sie, dass dies auch ihnen blüht. Vor allem der Mut des Kanzlers wird in Frankreich
bewundert. Dennoch ist sich Bocef sicher, im Idealfall müssten die Reformen noch härter sein.
Zusammenhalt und Wachstum sind gefragt
Thomas Lundin schreibt in Bonn für die schwedische Zeitung "Svenska Dagbladet". Lundin vergleicht die Situation in Deutschland mit der in Schweden. In den 1990er-Jahren wurden der schwedischen Bevölkerung ebenfalls drastische Maßnahmen zugemutet. Das marode Sozialsystem konnte aber nur so gerettet werden. Die Schweden mussten zusammenhalten und die Pläne ihrer Regierung unterstützen.
"Schweden hatte eine Road Map, die fehlt Deutschland im Moment. Die Deutsche Reformagenda 2010 sieht ganz ähnliche Maßnahmen vor, wie sie auch in Schweden, und vielen anderen europäischen Ländern durchgeführt wurden. Deutschland hat diesen Reformprozess in den 1990ern, den guten Jahren, vor sich hergeschoben. Deutschland muss nun durchziehen, was viele europäische Länder, wie die Niederlande, Schweden und auch Dänemark erfolgreich durchgesetzt haben."
Um wirksam zu werden, muss der Reformprozess in Deutschland in den nächsten Jahren konsequent von der Regierung und vom Volk getragen werden. Der schwedische Korrespondent erkennt die Zwickmühle, in der die Regierung steckt: Die Bevölkerung ist jetzt unzufrieden.
"Das Problem der Regierung ist, dass die Menschen jetzt auf die Straßen gehen. Es ist also politisch eine ziemlich explosive Situation im Moment. Und für Deutschland ist es
auch ein schlechtes Timing, denn die Wirtschaft ist in wirklich schlechter Form und braucht dringend mehr Wachstum, um die Arbeitslosen wieder auf den Arbeitsmarkt zu bringen. Und
genau das braucht Deutschland im Moment. Wachstum!"