Kundus vor dem Fall?
8. November 2014Kundus ist weltoffen. Im Stadtzentrum wirbt das "Five-Stars"-Hotel mit seinem kostenlosen WiFi-Zugang. Das Innere besticht durch spiegelblanken Marmorfußboden auf jeder Etage; die Zimmer sind geräumig, die Vorhänge bonbonfarben, die Fenster verspiegelt. Im Restaurant lassen die Bässe afghanischer Popmusik Tische und Stühle zittern. Schiebt man die Gardinen zurück, fällt der Blick über die Dächer der Provinzhauptstadt bis weit ins Hinterland: Berge, Palmen - Frieden. Ein Ambiente wie geschaffen für chinesische Investoren oder reiche Geschäftsleute vom Golf. Viel hat sich verändert, seit Ende 2001 die Taliban von hier vertrieben wurden.
Doch wer sich im Auto durch den täglichen Gemüsemarkt rund um das "Five Stars" drängt und Richtung Süden fährt, wird nach zehn Minuten schon an der ersten Abzweigung gestoppt. Zivilisten - Männer mit langen Bärten, in Pluderhosen und Turbanen - fuchteln mit Kalaschnikows und bedeuten einem, dass von hier an die Weiterfahrt unmöglich ist. Von hier an hätten die Taliban das Sagen. Nein, sie gehörten nicht zu ihnen, sondern zur irregulären ALP, zur Afghan Local Police und verteidigten die letzte Bastion vor dem Gebiet der Aufständischen. Die letzte Bastion, zehn Minuten vom Stadtzentrum, ein Jahr, nachdem die Bundeswehr aus ihrem zweitwichtigsten Stützpunkt im afghanischen Norden abgezogen ist?
Verlassenes Feldlager
Auf einer Anhöhe hoch über Kundus gelegen, erinnert das ehemalige deutsche Feldlager an eine Stadt, die fluchtartig verlassen wurde. Überall sieht man noch deutsche Schilder: "Feldjäger", "Instandsetzung", "Stab I", "Stab II". Vor dem Eingang zur ehemaligen Außenstelle des Auswärtigen Amtes ist ein Gitter heruntergelassen, das bereits zu rosten beginnt. Die Straße davor senkt sich ab, im Pflaster zeigen sich Risse. Nur eine Handvoll afghanischer Polizisten ist hier eingezogen. In der überdimensionierten Anlage muss man sie wie mit der Lupe suchen. Manchmal trifft man einige, die irgendwo zwischen den Gebäuden auf dem Boden hocken und sich auf einem Gaskocher ihr Kebab braten. Der Neubau der Kantine, erst kurz vor Abzug fertiggeworden, steht leer. Im Lager hinter der Küche vergammeln Tausende von Fertiggerichten. Vor dieser Kantine hatte vor einem Jahr die Zeremonie der Übergabe an die Afghanische Nationalpolizei stattgefunden. Deutschland, so betonten Außen-, Entwicklungs- und Verteidigungspolitiker, lasse geordnete Verhältnisse zurück. Einen besenreinen, hochmodernen Stützpunkt. Eine gesicherte Stadt in einer weithin gesicherten Provinz.
Schattenherrschaft der Taliban
Ende 2010 hatte die Bundeswehr in einer von ihr geplanten großen Offensive namens "Halmazag" die Taliban aus den Dörfern ringsum vertrieben. In den Jahren 2011 und 2012 waren Infrastrukturmaßnahmen gefolgt, um Herzen und Köpfe der Bevölkerung zu gewinnen. Zehn Monate nach dem Abzug der Bundeswehr dann der Schock: Im August 2014 hissten die Taliban ihre Flagge innerhalb des größten Außenpostens, den die Bundeswehr vorher verteidigt hatte – im Polizeihauptquartier des Chahar-Darah-Distrikts, nur zehn Fahrtminuten vom Stadtzentrum entfernt. Afghanische Armee und Polizei sandten Verstärkungen aus Mazar- e Sharif. Zwar konnten sie die symbolträchtige Polizeiwache wieder zurückerobern. Seitdem hat sich jedoch in vielen Vierteln rund ums Stadtzentrum ein Parallelsystem der Aufständischen weiter etabliert. Mit Scharia-Gerichtshöfen und einer Schattenverwaltung.
Tadschiken gegen Paschtunen
Die Ursachen der Abwärtsentwicklung erschließen sich, wenn man einigen der Einwohnern zuhört. Nicht nur denen in der Stadt, sondern auch denen in den Dörfern und Kleinstädten der Provinz. Menschen wie Jumaddin. An den Taliban vorbei ist er mit einem Sammeltaxi aus dem Umland bis zum Five Stars-Hotel gefahren. Der weißbärtige Mann Mitte Sechzig bewohnt ein Gehöft unweit von Khanabad, einer Ortschaft etwa eine halbe Stunde von Kundus entfernt. "Sie erschossen meinen Sohn am Fluss unweit des Hauses", berichtet er. "Im Dezember 2013". Sie – das sind die Mitglieder einer berüchtigten Killertruppe, die seit langem die ganze Gegend kontrolliert – mit Billigung der Provinzregierung. Der Anführer, Sayed Hossein, und seine Leute sind Tadschiken; die Taliban meist Paschtunen, im afghanischen Norden ein Minderheit, zu der auch Jumaddin gehört. "Mein Sohn sollte sich Sayed Hosseins Gruppe anschließen. Als er sich weigerte, töteten sie ihn."
Anzeige? Gericht? Polizei? Jumaddin kann nur müde abwinken. Jeder weiß, dass sich die Regierung beim Kampf gegen die Taliban auf diese Gangster stützt. Die ganze Provinz ist ihnen ausgeliefert. Sie brechen in die Häuser ein, nehmen sich was sie wollen, misshandeln, töten, stehlen straflos. Jetzt ist er, der Großvater, für die fünf Kinder seines toten Sohnes zuständig. Jetzt geht es noch – aber was soll in fünf oder in zehn Jahren sein?
Zwischen den Fronten
Den Aufbau von Armee und Polizei – Jumaddin hält das für einen Etikettenschwindel. Die Uniformierten, sagt er, hielten sich aus den eigentlichen Konflikten heraus. "Wir stehen von zwei Seiten unter Druck", sagt Jumaddin. "Von den Taliban und von diesen Milizen. Die Taliban sind schlimm, aber nicht so schlimm wie die Milizen. Die Taliban bedienen sich verbrecherischer Mittel, verfügen aber immerhin über ein Weltbild und halten sich an Regeln. Die regierungsfreundlichen Milizionäre sind nur Verbrecher. Für Geld tun sie alles."
Ghulam Sakhi Baghlani, der Gouverneur von Kundus, räumt ein, dass man sich gezwungen sieht, mit "Kommandanten" Bündnisse zu schließen, die Verbrechen gegen die Bevölkerung verüben. Es war die ISAF, also hier in Kundus, die Bundeswehr, die solche verbrecherischen Milizen in ihre militärischen Planungen einbezog. Die von ihr geführte Offensive "Halmazag" von 2010 wäre ohne Hilfe dieser Banden gar nicht möglich gewesen. Jetzt habe man sie eben am Hals. Achselzuckend fragt der Gouverneur: "Was wäre denn die Alternative? Will man die Taliban lieber am Stadtrand oder im Stadtzentrum?"