Sucht nach Bits und Bytes
24. August 2006Keith Bakker ist inzwischen so erschöpft, dass er aus Amsterdam nach Griechenland geflohen ist. 400 Interviews haben er und seine Mitarbeiter in den letzten zwei Monaten gegeben. Von CNN über BBC bis Al-Jazira. Bakker ist Direktor der Firma Smith & Jones, die in den Niederlanden sechs Therapiekliniken betreibt. Seit wenigen Wochen bieten sie auch ein Therapieprogramm für Computerspiel-Süchtige an und seitdem werden sie überrollt von Anfragen aus aller Welt.
Das klinische Angebot ist neu in Europa. Bislang konnten besorgte Eltern ihre Zöglinge nur zur ambulanten Psychotherapie schleifen. Computerspielsucht ist keine anerkannte Krankheit, die von der Krankenkasse bezahlt wird. Ihre Folgen sind teilweise aber so schwerwiegend, dass die Betroffenen aus anderen Gründen beim Psychiater landen: Depressionen, Ängste und Sozialphobien.
Ähnlich wie bei Cannabis
Ralf Thalemann kennt solche Fälle. Er ist Kinder- und Jugendtherapeut und arbeitet im Suchtforschungszentrum der Berliner Charité. Er hat eine Studie über exzessives Computerspielen gemacht und physiologisch bestätigt, dass Computerspielen süchtig machen kann. Genauso, wie der Konsum von Cannabis oder Alkohol. "Die Hirnreaktionen von exzessiven Computerspielern ähneln denen von Alkohol- und Drogensüchtigen", sagt er.
Exzessive Computerspieler sind für Thalemann diejenigen, die mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllen: sie haben ein unstillbares Verlangen zu spielen, entwickeln eine Toleranz, so dass sie immer mehr spielen müssen, um den gleichen Effekt zu erhalten, leiden unter Entzugssymptomen, vernachlässigen Freunde oder Hobbies, sie verlieren die Kontrolle über das eigene Spielverhalten und spielen immer weiter, auch wenn das negative Folgen hat wie Probleme in der Schule oder im Berufsleben.
Stress geht, Spaß kommt
"Kontrollverlust erlebt jeder Computerspieler relativ schnell, das ist ja schon, wenn man sich nur für eine halbe Stunde hinsetzen will und dann doch ein paar Stunden spielt und die Zeit vergisst", sagt er. "Das ist für sich natürlich nicht so schlimm. Aber wenn dann noch andere Kriterien dazukommen, dann wird es kritisch."
Lesen Sie weiter: Wer anfällig ist für die Spielsucht ...
Die Ursachen für eine Sucht sind genauso komplex wie der einzelne Mensch. Thalemann hat aber festgestellt, dass "Menschen, die nicht gut mit Stress umgehen können, eher gefährdet sind exzessives Computerspielverhalten zu entwickeln. Menschen, die dazu tendieren ihre Probleme nicht lösungsorientiert anzugehen, die versuchen, sie zu verdrängen. Besonders bei Jungen hat das Computerspielen dann einen Stress reduzierenden Effekt - man vergisst seine Sorgen, es macht Spaß, man kann in Welten abtauchen, die einem gut gefallen."
Beruf: Online-Rollenspieler
Thalemann betont, dass Computer-, Video- oder Online-Rollenspiele süchtig machen können, aber nicht müssen. Er selber spielt auch gerne und die Computerspielindustrie würde er trotz all den Patienten, die er schon erlebt hat nicht verteufeln. "Es ist ja nun nicht so, dass man Leute drei Wochen vor den Computer setzt und dann kommen sie süchtig raus. Es ist ein Lernverhalten, das zur Lebensgeschichte passt, zu den individuellen Voraussetzungen. Und bei einigen sind die Konstellationen eben ungünstig und das kann dann verheerende Folgen haben. Es wäre jetzt sicherlich zu kurz gegriffen zu sagen, die Spielindustrie produziert Millionen von Süchtigen."
Umfassende empirische Zahlen über Computerspielsüchtige gibt es für Deutschland nicht. Auch weltweit stützen sich Vermutungen auf wenige und sehr unterschiedliche Studien. Heraus kommen dann Ergebnisse, die sagen, dass zwischen 10 und 12 Prozent der Jugendlichen bis 18 Jahren in den jeweiligen Ländern computerspielsüchtig sind. Selbst in Asien, wo es eine sehr starke Computerspielszene gibt, liegen die Prozentzahlen aber nicht höher. Dabei verdienen sich in China eine halbe Million Menschen sogar ihren Lebensunterhalt als professionelle Online-Rollenspieler. Spielfachleute schätzten im Juni 2005, dass sechs Millionen Menschen weltweit das Online-Rollenspiel "World of Warcraft" spielten. Ein Spiel, bei dem bis zu 20.000 Menschen über das Internet vernetzt, gleichzeitig spielen können. Etwa 1600 solcher "massively multiplayer online games" sind auf dem Markt.
Angenehme Grundspannung
Spielgegener erzählen angesichts solcher Zahlen gerne Schreckensmeldungen. Wie die, vom 13-jährigen Chinesen Zhang Xiaoyi, der 36 Stunden "Warcraft" gespielt hatte und danach Selbstmord beging. Oder von Rachemorden unter Freunden, weil der eine ungefragt das virtuelle Schwert des anderen verkauft hatte. Einzelfälle, nicht die Regel.
Normal sind eher Spielfans wie Aarni Kuoppamäki. Er ist 23 Jahre alt und Journalist. Vor zehn Jahren bekam er seinen ersten Computer, heute besitzt er einen Spiele-PC, eine Playstation und einen Nintendo 64. Zweimal in der Woche zwei Stunden spielt er regelmäßig. Er mag Rollen- und Abenteuerspiele, aber auch 3D-Shooter, die für ihn eine angenehme Grundspannung erzeugen und nicht so lange dauern. "Ich spiele, weil es mir Spaß macht, ich verlasse mental meine Umwelt und habe Erfolgserlebnisse", sagt er. Als suchtgefährdet schätzt er sich nicht ein. "Ich höre auf, wenn ich muss oder fange erst gar nicht an. Manchmal muss ich ohne Spiele auskommen, weil ich keine Zeit habe. Ich sehe aber keinen anderen Grund, warum ich das Daddeln meiden sollte".
Kognitive Fähigkeiten schulen
Trendforscher Mathias Horx vom Zukunftsinstitut in Kelkheim am Taunus, sieht das auch so. Horx ist sogar davon überzeugt, dass komplexe Computer- und Videospiele kognitive Fähigkeiten schulen, die jeder in der Arbeits- und Wissenswelt des 21. Jahrhunderts brauche. Ralf Thalemann stimmt ihm da grundsätzlich zu: "Die Frage ist nur, ob das der beste Weg ist, sowas zu machen. Ich kann auch Badminton spielen um meine Auge-Hand-Koordination zu schulen und habe da wahrscheinlich mehr von, als wenn ich den ganzen Tag Counterstrike spiele."
Das zu entscheiden, ist dann aber jedem einzelnen überlassen. Christoph Klimmt, Kommunikationswissenschaftler aus Hannover, warnt davor, das Thema "Computerspielsucht" hochzukochen. "Computer- und Videospiele haben durchaus negative Folgen, aber auch gute, sie sind weder alleiniges Übel, noch Heilsbringer", sagt er. "Ein gesundes Mittelmaß in der Diskussion ist wichtig. Denn bei allen Bedenken sollte man die Kirche doch im Dorf lassen."