"Ich bin ein Mensch des Ohres"
7. Dezember 2015"Flaubert nannte sich einen Mann der Feder, ich kann von mir sagen, ich bin ein Mensch des Ohres". In ihrer Nobelvorlesung erklärte die diesjährige Nobel-Preisträgerin Swetlana Alexijewitsch, wie sehr ihr die mündlich überlieferten Geschichten am Herzen lägen und bedauerte gleichzeitig, dass ein Teil dennoch nicht für die Literatur erobert werden könne: "Wir haben ihn bisher nicht geschätzt, nicht bestaunt, nicht bewundert. Mich aber hat er in seinen Bann geschlagen und gefangengenommen. Ich liebe es, wie Menschen sprechen ... Ich liebe die einzelne menschliche Stimme. Das ist meine größte Liebe und Leidenschaft."
Chronistin menschlichen Leids
Ihre große Leidenschaft und auch ihre Furchtlosigkeit hat die weißrussische Autorin in ihren fünf bereits erschienenen Romanen bewiesen. Sie erfindet keine fantastischen Geschichten, sondern lässt echte Menschen zu Wort kommen, konserviert so die Spuren der untergegangenen Sowjetunion und erklärt das Scheitern der Demokratie in Russland und Weißrussland: "Mich interessiert der kleine Mensch. Der große kleine Mensch, so würde ich es nennen, denn sein Leiden macht ihn groß. In meinen Büchern erzählt er seine eigene kleine Geschichte und damit zugleich auch die große Geschichte."
Eben diese besondere Art und Weise, die Katastrophen und den harten Alltag der Menschen in ihrer Heimat aufzuarbeiten und zu dokumentieren, war für die Jury der Schwedischen Akademie der Wissenschaften in Stockholm der Grund, Alexijewitsch den Literatur-Nobelpreis zuzusprechen. Die Autorin habe dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal gesetzt. "Was mit uns geschehen ist und mit uns geschieht, ist noch nicht verarbeitet, es muss ausgesprochen werden. [...] Wir scheuen uns davor, solange wir nicht in der Lage sind, unsere Vergangenheit zu bewältigen", so die Autorin in ihrer Nobelvorlesung.
Der Literaturnobelpreis ist, wie auch die Auszeichnungen in den anderen Kategorien, mit acht Millionen Kronen (etwa 850.000 Euro) dotiert. Alle Preise werden am 10. Dezember, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel, in einem feierlichen Festakt verliehen. Der Preis ermöglicht Swetlana Alexijewitsch, ihre Arbeit fortzusetzen, und damit nicht nur für ihr Heimatland ein Stück verlorengegangene Menschlichkeit wieder zu erringen: "Ich habe drei Zuhause: Meine weißrussische Heimat, das Land meines Vaters, wo ich mein ganzes Leben verbracht habe, die Ukraine, die Heimat meiner Mutter, wo ich geboren bin, und die große russische Kultur, ohne die ich mir mich nicht vorstellen kann. Sie sind mir alle lieb und teuer. Aber in unserer Zeit ist es schwer, von Liebe zu sprechen."
as/wl (nobelprize.org / dpa)