Ein Abtrünniger fordert Erdogan heraus
12. Dezember 2019Seit 18 Jahren bestimmt Präsident Recep Tayyip Erdogan die Politik der Türkei. In letzter Zeit aber weist sein Regime Verschleißerscheinungen auf: Die Wirtschaftskrise, eine erstarkte Opposition und die Wahlschlappe bei den Kommunalwahlen Ende März bringen die Machtbasis der regierenden AKP zum Bröckeln.
Der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu setzt auf den Machtverfall des Präsidenten und seiner Partei. Medienwirksam trat er im September aus der islamisch-konservativen AKP aus. Monatelang kursierten Gerüchte, dass Davutoglu eine neue Partei gründen wolle, um mit der islamisch-konservativen AKP zu konkurrieren. Seit heute ist es so gut wie offiziell: Er stellte beim Innenministerium den Antrag auf die Gründung der Gelecek Partisi - zu deutsch: Zukunftspartei. Auf Twitter kündigt die neue Partei an: Wir wollen dem Land Ruhe, Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand bringen.
Davutoglu will Revanche
Erdogan und Davutoglu waren lange Zeit enge Weggefährten. Seit dem rasanten Aufstieg der AKP im Jahr 2002 war Davutoglu fest an der Seite des türkischen Präsidenten: als Berater, Außenminister, Ministerpräsident und sogar als AKP-Parteivorsitzender. 2016 wurde er seinem politischen Ziehvater aber zu eigensinnig: Erdogan drängte ihn kurzerhand aus beiden Ämtern. Mit der Gründung der Zukunftspartei revanchiert sich der ehemalige Ministerpräsident; die Partei könnte die AKP wichtige Wählerstimmen aus dem konservativen Lager kosten.
Noch ein mächtiger Ex-Weggefährte sägt an der Machtbasis der Regierungspartei: Der ehemalige Wirtschaftsminister, AKP-Gründungsmitglied Ali Babacan will türkischen Medienberichten zufolge ebenfalls eine neue Partei gründen. Bei den Vorbereitungen dazu wird Babacan von Ex-Präsident Abdullah Gül unterstützt.
"Die Vormacht der AKP wird schmelzen"
Der ehemalige Außenminister Yasar Yakis sagt der DW, dass die beiden Parteigründungen Erdogans Partei sehr schaden würden. "Sowohl Babacan als auch Davutoglu werden Stimmen von AKP-Anhängern einsammeln. Babacan hat zudem einen guten Ruf in der internationalen Finanzwelt. Seine wirtschaftliche Kompetenz wird ihm dabei helfen, Stimmen auch aus der Wählerschaft der Oppositionsparteien CHP, MHP und Iyi Parti zu erhalten." Davutoglu wiederum sei eine gute Option für konservative Wähler, so das AKP-Gründungsmitglied Yakis.
"Der Zerfall der AKP beginnt nun. Die 18-jährige Regentschaft geht zu Grunde. Sowohl Babacan als auch Davutoglu werden der AKP Stimmen wegnehmen. Ihr Hauptziel ist es, Erdogan ein Bein zu stellen", so lautet auch die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Baskin Oran von der Universität Ankara.
Ob gerade ehemalige AKP-Größen mit neuen Parteien eine Alternative zur regierenden AKP darstellen, darüber gibt es in der türkischen Öffentlichkeit erhebliche Zweifel. Davutoglu wird vorgeworfen, dass er zu lange geschwiegen habe; ihm wird Mitverantwortung für die Aushöhlung der türkischen Demokratie zur Last gelegt. Ähnliche Kritik gibt es auch an Babacan. Ihm traut man aber zu, dass er eine liberal-konservative Partei auf die Beine bringt, die an den Reformeifer in den Anfangsjahren der AKP anknüpft. "Man könnte sagen, dass Babacan gegen die AKP mehr Chancen hat als Davutoglu. Der Wähler erinnert sich daran, dass Davutoglu Ministerpräsident war. Das ist ein erhebliches Handicap", so Yakis.
Werden nun schmutzige Geheimnisse öffentlich?
Der türkische Präsident beschimpfte Davutoglu mehrfach als Verräter: "Wir werden sie zur Rechenschaft ziehen, wenn die Zeit gekommen ist." Dass Erdogan so empfindlich reagiert, ist nicht nur auf den möglichen Verlust von Wählerstimmen zurückzuführen. Die ehemaligen Weggefährten sind AKP-Insider und kennen das System Erdogan genau. Kritiker und Oppositionelle werfen der Regierungspartei Vetternwirtschaft, Korruption oder die Gründung dubioser Familien-Stiftungen vor, mit denen Steuergelder veruntreut werden. Sie gehen davon aus, dass die AKP ihre Macht mithilfe von illegalen Machenschaften abgesichert habe. Derartiges Wissen könnten Davutoglu und Babacan gegen die Regierungspartei verwenden.
Doch auch Erdogan deutete an, dass er kompromittierende Informationen über seine Herausforderer in der Hinterhand hat. Er beschuldigte Babacan und Davutoglu, die Halkbank betrogen zu haben, als sie die staatliche Bank dazu veranlassten, der Istanbuler Sehir-Universität einen Kredit von umgerechnet 65 Millionen Euro zu gewähren. Der Kredit sei nicht zurückgezahlt worden. Hinzu komme, dass Babacan der Universität mithilfe eines dubiosen Erlasses Grundeigentum zugeschanzt habe. Davutoglu bestreitet die Vorwürfe und forderte, dass Erdogan und seine Familie ihre Vermögenswerte offen legen sollen - eine Anspielung auf die mutmaßliche Käuflichkeit des türkischen Präsidenten.
Der AKP laufen die Mitglieder weg
Die Schlammschlacht hat begonnen - schon bevor die beiden Parteineugründungen überhaupt ihre Arbeit begonnen haben. Der Schlagabtausch werde sich gewaltig hochschaukeln, meint auch der Politikwissenschaftler Oran: "Nachdem Erdogan das Halkbank-Kapitel angesprochen hat, wird er noch viele weitere Kapitel aufschlagen. Auf diese Weise könnten auch Details über die Rolle des islamischen Predigers Fethullah Gülen an die Oberfläche kommen." Die Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich macht, wird heute von der türkischen Regierung als Terrororganisation eingestuft - obwohl Gülen lange Zeit Verbündeter Erdogans gewesen ist.
Die Parteigründung Davutoglus ist ein Symbol für die Machterosion in der Basis der AKP: In den letzten Monaten haben knapp eine Million Mitglieder die Partei verlassen, darunter auch AKP-Schwergewichte, die sich seit Monaten ungewohnt kritisch über die AKP-Führung äußern. Bis zu den Präsidentschaftswahlen am 18. Juni 2023 könnte die Basis weiter schrumpfen. Doch Experten gehen davon aus, dass Erdogan auf ein altbewährtes Mittel zurückgreifen wird - vorgezogene Wahlen sollen dem Abwärtstrend zuvorkommen.