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PolitikTürkei

Türkei ein Jahr nach dem Beben: Überleben in Geisterstädten

Alican Uludag | Aynur Tekin | Burak Ünveren
5. Februar 2024

Ein Jahr nach dem katastrophalen Erdbeben leben im Südosten der Türkei noch immer Zehntausende in Notunterkünften. In der stark betroffenen Provinz Hatay kommt der Wiederaufbau kaum voran. Der Unmut der Menschen wächst.

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Ein Mann geht an einem Café vorbei, das durch das letztjährige Erdbeben in der historischen Altstadt Hatays zerstört wurde. Im Hintergrund sind weitere zerstörte Häuser und Trümmer zu sehen.
Der Wiederaufbau in Hatay kommt nur schleppend voran: Die Zerstörungen durch das Erdbeben sind fast noch überall sichtbar.Bild: Chris McGrath/Getty Images

Am 6. Februar 2023 wurden die südöstliche Türkei und Nordsyrien von einem starken Erdbeben erschüttert. Offiziell sind mehr als 50.000 Menschen gestorben, über 125.000 wurden verletzt. Am stärksten betroffen war die Stadt Hatay an der Grenze zu Syrien. Ganze Stadtteile wurden dabei zerstört. Noch heute wirken sie verlassen. Dort, wo die Ruinen und der Schutt inzwischen beseitigt wurden, steht nichts mehr. Hatay wurde in großen Teilen zur Geisterstadt.

Das Provisorium wird zum Dauerwohnort

Zahlreiche Menschen sind seit dem Erdbeben in andere Städte ausgewandert. Diejenigen, die blieben, wohnen noch heute zum großen Teil in Containerdörfern, die eigentlich nur als Provisorium gedacht waren. Rund 200 dieser nach dem Beben eilig hochgezogenen Unterkünfte gibt es allein im Großraum Hatay. Etwa 187.000 Menschen haben dort Zuflucht gefunden.

Ein Containerdorf im Vordergrund und Berge im Hintergrund
So sieht Hatay heute aus: Viele Überlebende wohnen in ContainerdörfernBild: Aynur Tekin/DW

Der Unmut ist groß. Es gebe in den Unterkünften zu wenig Platz, klagen Bewohner. In vielen Containern wohnen mehrere Familien zusammen. Serap Selcuk etwa teilt sich einen Container mit ihren zwei Kindern und fünf weiteren Menschen. Sie berichtet, dass sie einen zweiten Container beantragt haben, aber bislang keine Antwort bekamen.

"Die Lebensbedingungen sind viel zu hart", sagt die Lehrerin im DW-Gespräch. "Meine Kinder und ich haben große Schwierigkeiten, zurechtzukommen", so Selcuk. Auch Meryem Karatas wohnt in einem Container. "Das Leben ist schwer, aber wir versuchen, das Beste daraus zu machen", so Karatas. Auch ihr Container sei klein und eng, berichtet die Mutter von drei Kindern der DW. Oft hätten sie keinen Strom oder Wasser.

Serap Selcuk, eine Überlebende des Erdbebens, steht vor ihrem Wohncontainer
Serap Selcuk überlebte das Erdbeben in HatayBild: Aynur Tekin/DW

In den ersten Tagen nach dem Erdbeben hatte es noch kostenlose Essensangebote und Lebensmittelhilfen gegeben, berichten Betroffene. Doch die wurden mittlerweile eingestellt. Serap Selcuk berichtet, dass sie insgesamt nur zwei Hilfspakete von der türkischen Katastrophenbehörde AFAD bekommen habe. Der Behörde war in den ersten Tagen nach der Katastrophe vorgeworfen worden, bei ihren Hilfen nicht schnell genug zu sein - besonders in Hatay.

Neben der immer wieder zusammenbrechenden Strom- und Wasserversorgung sind auch die vielen nach wie vor beschädigten Straßen ein großes Problem. Einige sind unpassierbar - und wenn es regnet, verschärft sich das Problem zusätzlich, weil das Wasser kaum abfließen kann. Serap Selcuk beklagt zudem eine Zunahme der Straßenkriminalität. In der Anfangszeit hätten Polizeibeamte und Wächter in ihrem Containerdorf noch für Sicherheit gesorgt. "Heute gibt es nur noch ein paar Kameras", sagt sie. "Vor kurzem hat jemand eine andere Person mit einer Schusswaffe bedroht", klagt sie. Eingeschritten sei niemand. 

Neue Wohnhäuser im Bau in Hatay
Viele Häuser sind im Bau, doch nur eine Handvoll wurde bislang fertiggestellt.Bild: Aynur Tekin/DW

Nur 25 Wohnungen fertiggestellt

Wie schleppend der Wiederaufbau vorangeht, zeigt sich auch ein Blick auf den Wohnungsbau in Hatay. 45.000 Unterkünfte sollen neu errichtet werden. Aber nur etwas mehr als 2600 von ihnen stehen kurz vor der Fertigstellung. Bereits bezugsfertig sind laut offiziellen Angaben gerade einmal 25 Wohnungen. Die Zahl der Neubauten reiche hinten und vorne nicht aus, erklärt Meryem Karatas. Und wenn, dann stünden sie in einem weit entfernten Stadtteil, befänden sich noch im Rohbau und die Zufahrtswege seien von Schlamm und Geröll überspült.

Meryem Karatas öffnet die Tür ihrer Containerwohnung
Auch Meryem Karatas lebt noch immer in einem ContainerdorfBild: Aynur Tekin/DW

"Es ist unmöglich, alle Betroffenen hier zu beherbergen", so Karatas, die vor dem Beben in einem Einfamilienhaus lebte. Doch allen schwierigen Bedingungen zum Trotz: Viele der jetzt noch in den Containerdörfern lebenden Menschen wollen in Hatay bleiben. "Ich habe meine Heimatstadt nach dem Beben nicht verlassen. Aber der Staat hat Hatay seinem Schicksal überlassen", sagt Mustafa Bayir. Auch er lebt mit seiner achtköpfigen Familie in einem kleinen Container.

"Wir hatten eine 195-Quadratmeter-Wohnung. Jetzt müssen wir auf 21 Quadratmetern leben", erzählt der 70-jährige Abdulsamet Pulat. Er aber sei dem Staat trotzdem dankbar. "Wir sind nicht verhungert oder verdurstet, wir hatten immer ein Dach über den Kopf", so Pulat. Beim Erdbeben wurde seine Frau verletzt. In Izmir wurde sie operiert, anschließend wohnten sie für eine Weile in einem Studentenwohnheim im nordtürkischen Samsun. Danach kehrten sie nach Hatay zurück, erzählt er. "Ich will wieder dort leben, wo meine ehemalige Wohnung war", so Pulat. 

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Viele kommen nicht zurück

Auch im Industriegebiet der Stadt sind 95 Prozent aller Gebäude eingestürzt. Ethem Icer backt Brot in einem beschädigten Gebäude. Doch auch die Zahl seiner Kunden ist seit dem Beben deutlich zurückgegangen, statt wie früher 4000 Brötchen verkauft er heute nur noch 1000 pro Tag. Von den ehemals sieben Bäckereimitarbeitern ist er als Einziger geblieben. Ladenbesitzer wie er bekämen keinerlei Hilfen, schimpft er.

Eine Autowerkstatt in einem Container, an der Tür hängen Autofelgen, ein Mechaniker prüft den Luftdruck am Reifen eines Kunden, im Hintergrund Schuttberge
Levent Ineycis Werkstatt im Industriegebiet in HatayBild: Alican Uludag/DW

"Der Staat hat uns vergessen", sagt auch Automechaniker Levent Ineyci. "Viele Menschen möchten wieder arbeiten, aber das wird vom Staat nicht genug gefördert. Früher hatten wir hier viele begabte Meister. Doch sie sind gegangen und nicht wieder zurückgekommen. Das ist ein großer Verlust." Auch Taxifahrer Ekrem Öztürk ist der letzte von einst 15 Fahrern seines Unternehmens. "Viele sagen, hier habe sich alles normalisiert", sagt Öztürk mit leerem Blick. "Aber das stimmt nicht. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre im Erdbeben gestorben. Dann müsste ich das alles heute nicht mehr mit ansehen."

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DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.