Türkei: Interview mit dem Regisseur Tolga Karaçelik
4. Februar 2018Der Film "Kelebekler" ("Schmetterlinge") des türkischen Regisseurs Tolga Karaçelik wurde beim renommierten Sundance Film Festival in der Kategorie Weltkino als bester Film ausgezeichnet und gewann den Großen Preis der Jury. Damit ist er der erste türkische Film, der diesen Preis erhielt. Vor der Produktion hatte das türkische Ministerium für Kultur und Tourismus dem Regisseur Karaçelik die Förderung verweigert. Daraufhin verbreitete Karaçelik die Entscheidung des Ministeriums über die sozialen Medien mit den Worten "Das Ministerium für Kultur fand meinen Film 'Schmetterlinge' nicht förderungswürdig". Karaçelik ist einer der Regisseure, die 2016 offen ihre Solidarität mit den "Akademikern für den Frieden" aussprachen – einer Gruppe von über tausend Akademikern, die in einer Petition die türkische Regierung dazu aufforderten, die militärischen Einsätze in kurdischen Gebieten einzustellen und den Kurdenkonflikt friedlich zu lösen. Viele von ihnen verloren daraufhin ihre Arbeit. Eine große Anzahl sah sich gezwungen, ins Ausland zu emigrieren.
Beim Filmfestival in Rotterdam fand die Europapremiere von Karaçeliks Film statt.
Deutsche Welle: Dass Ihre Regiearbeit beim Sundance Film Festival in der Kategorie Weltkino als bester Film ausgezeichnet wurde und den Großen Preis der Jury gewann, ist ein großer Erfolg. Haben Sie damit gerechnet?
Tolga Karaçelik: Um ehrlich zu sein, kein bisschen. Zu Beginn unseres Aufenthaltes dort kam eine junge Frau, die sich um die Filmcrews kümmerte, zu mir und flüsterte mir ins Ohr: 'Ihr Beitrag ist mein Lieblingsfilm'. Doch ich dachte da nur, das ist einer der schönen Augenblicke, die man immer wieder bei Festivals erlebt. Zudem hatten wir auch keinen Verkaufsagenten. Diese Leute sorgen für den "buzz", wie die Amerikaner es nennen, also für das "Gerede". In Zeitschriften erscheinen Kritiken, es wird über den Film geredet. Somit erhöhen sie den Bekanntheitsgrad des Films und sorgen dafür, dass er auf Festivals Abnehmer finden. Aber wir waren der einzige Film beim Sundance Film Festival ohne Verkaufsagenten.
Ihre Startbedingungen waren nicht unbedingt optimal und dennoch haben Sie diesen Preis gewonnen. Das erinnert etwas an die Fußballeuropameisterschaft 1992: Knapp zehn Tage vor der Meisterschaft wurde Jugoslawien disqualifiziert. Daraufhin brach die dänische Nationalmannschaft ihren Urlaub ab, nahm an der Meisterschaft teil und gewann.
Das stimmt. Auch ich habe in letzter Sekunde am Festival teilgenommen. Ich habe im August 18 Tage lang gedreht. Dann kam der Schnitt. Ende Oktober, Anfang November habe ich mich fürs Festival beworben. Normalerweise muss man die Bewerbung bis September beim Sundance Film Festival eingereicht haben. Als ich dann erfuhr, dass ich angenommen wurde, war ich fix und fertig, auch weil mir da bewusst wurde, dass der Film bis Januar fertig sein muss. In dieser Zeit musste ich auch noch zwei Mal ins Krankenhaus, mir wurde Schwarz vor Augen vom vielen Arbeiten und ich bekam Infusionen.
Worum geht es in Ihrem Film?
Der Film spielt in dem Dorf Hasanlar, von dem auch die Rede in meinem ersten Film "Der Beamte am Schalter" ist. Ein Mann weiß nach dem Tod seiner Frau nicht, wie er mit seinen drei Kindern umgehen soll und schickt sie an unterschiedliche Orte. Eins der Kinder zur Tante nach Deutschland und die anderen beiden zu ihren Tanten nach Ankara. 20-25 Jahre lang haben die Kinder kaum Kontakt, weder untereinander noch zu ihrem Vater. Auf einen Anruf des Vaters hin kehren sie gemeinsam in ihr Dorf zurück. Dort sind sie mit einer völlig unerwarteten Situation konfrontiert und versuchen zu verstehen, wer sie sind und wer ihr Vater ist.
Welche Art von Genre ist der Film?
Ich mag es, die Genres miteinander zu vermischen. Das Kernthema des Films ist der Versuch dieser Menschen, die im Grunde Kinder geblieben sind, erwachsen zu werden. Ich wollte, dass der Film so erscheint, als wäre er von einem Sechsjährigen geschrieben und gedreht worden und als wären die Schauspieler sechs Jahre alt. Der Film nimmt dabei unterschiedliche Formen an: Mal hat er schwarzen Humor, mal eine Prise Absurdität, mal ist er ein Drama über eine dysfunktionale Familie und mal ein Roadmovie. Und dabei habe ich immer versucht, die Naivität sowohl der Schauspieler als auch der Filmsprache beizubehalten.
Der Film ist eine absolute Independent-Produktion. Sie haben ihn ohne die Förderung des türkischen Ministeriums für Kultur und Tourismus gedreht. Sie machten damals die Ablehnung des Ministeriums öffentlich und erklärten, man habe Ihren Film für nicht förderungswürdig befunden. Was glauben Sie, ist der Grund dafür, dass das Ministerium dieses Projekt, das später sogar einen Preis beim Sundance Film Festival gewonnen hat, nicht wollte?
Ich denke, das sollte man das Ministerium fragen. Ich mag es weder, mich als Opfer zu sehen noch mich zurückzuziehen. Daher sollte man diese Frage an das Ministerium adressieren.
Not macht erfinderisch, heißt es. Ihr Film "Efeu", den Sie in 19 Tagen gedreht haben, hat viele Preise gewonnen, darunter die "Goldene Orange", den Preis des Filmfestivals von Antalya. Ihren neuen Film drehten Sie in 18 Tagen. Wie schaffen Sie es, in so kurzer Zeit zu drehen?
Es ist uns gelungen, die Filme in dieser Zeit zu drehen, indem wir bei der Produktion kreativ waren. Bei der Fertigstellung eines Films braucht man Kameras, Effekte, Farbkorrektur und vieles mehr. Ich habe die Lieferanten dieser Posten in die Produktion integriert, sie zu Co-Produzenten gemacht. Außerdem hat die Filmcrew weniger verlangt als sonst und hat das Projekt mit unterstützt. Und wir haben wir eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Im Endeffekt haben wir den Film alle gemeinsam gemacht, weshalb ich auch auf Instagram geschrieben habe: "Das haben wir gemacht, jetzt gehört er uns allen."
Beim Filmfestival in Rotterdam fand die Europapremiere des Films statt. Wie war die Resonanz?
Die Zuschauer von Rotterdam sind etwas speziell. Wir haben uns zu Beginn gefühlt, als würden sie einer offenen Herz-Operation zusehen. Das ist ein Film, dem man sich nicht zu distanziert nähern sollte. Hätte er eine Gebrauchsanweisung, würde auf ihr stehen "bitte nicht zu ernst nehmen". Doch mit der Zeit schmolz das Eis. Und als der Film zu Ende war, sagten viele der Zuschauer, er habe ihnen wirklich sehr gefallen.
Das Interview führte Aydın Üstünel