Türkische Justiz: Nur bedingt arbeitsfähig
25. Januar 2017In den Gefängnissen der Türkei warten derzeit zehntausende Menschen auf ihren Prozess. Die meisten sind Soldaten, Polizisten, Richter und Ministerialbeamte, aber auch Lehrer, Dozenten und Journalisten sind darunter. Sie alle werden beschuldigt, zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu gehören, den Präsident Recep Tayyip Erdoğan für den gescheiterten Militärputsch verantwortlich macht. Nur die wenigsten Inhaftierten wurden bisher formell angeklagt, die meisten Verfahren stehen noch aus. Große Hoffnung auf einen fairen Prozess machen sich wohl die wenigsten.
Sechs Monate nach Verhängung des Ausnahmezustands in der Folge des Umsturzversuchs vom 15. Juli steht es nach Aussage von Anwälten und Oppositionspolitikern schlecht um die türkische Justiz. Rund 4000 Richter und Staatsanwälte wurden nach dem gescheiterten Staatsstreich als mutmaßliche Gülen-Anhänger entlassen, etwa 3000 von ihnen sitzen in Haft. Um die Lücken an den Gerichten zu füllen, wurden im Eilverfahren Referendare zu Richtern ernannt. Ohne die nötige Ausbildung und Erfahrung sind viele von ihnen überfordert, berichten Anwaltsvertreter.
Klagen werden abgelehnt, Beschwerden nicht bearbeitet
Neben der Entlassung der Richter und Staatsanwälte gibt es vor allem Sorge wegen der Notstandsdekrete, mit denen zahlreiche Bestimmungen der Strafprozessordnung geändert wurden. Obwohl große Bedenken zur Legalität dieser Dekrete bestünden, hätte das Verfassungsgericht es abgelehnt, sich mit ihren zu befassen, sagt der Präsident des Vereins für Menschenrechte (IHD), Öztürk Türkdogan. Auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sei keine Hilfe zu erwarten, da die Klagen dort viel zu lange dauern würden.
"Ich kann als Anwalt nichts gegen die Verletzungen tun, weil die Justiz nicht funktioniert. Es herrscht keine Rechtssicherheit mehr. Ich kann hier rausgehen und inhaftiert werden", sagt Türkdogan bei einem Gespräch mit einer Delegation des Deutschen Anwaltsvereins (DAV), die nach Ankara gereist ist, um sich einen Eindruck von der Lage ihrer türkischen Kollegen unter dem Ausnahmezustand zu machen. Die Richter lebten in Angst vor Entlassung, kritische Anwälte würden bedroht, von einer unabhängigen Justiz könne keine Rede mehr sein, sagt Türkdogan.
Unabhängigkeit eingeschränkt, Gewaltenteilung verwässert
Mit der von Präsident Erdoğan vorangetriebenen Verfassungsreform, die vergangene Woche vom Parlament gebilligt wurde und über die das Volk Anfang April in einem Referendum abstimmen soll, wird die Unabhängigkeit der Justiz weiter eingeschränkt. In dem angestrebten Präsidialsystem wird der Präsident nicht nur die meisten Richter des Verfassungsgerichts ernennen, sondern auch die Kontrolle über die Ernennung der Staatsanwälte und Richter haben. Damit wird die Gewaltenteilung, die essentiell für das Funktionieren der Demokratie ist, verwässert.
Die Opposition im Parlament hat die Verfassungsreformohnmächtig hinnehmen müssen, und auch die Notstandsdekrete hat sie nicht aufhalten können. Unter dem Ausnahmezustand seien bisher mehr als ein Dutzend Dekrete erlassen worden, doch seien bisher nur fünf ins Parlament gekommen, sagt der Abgeordnete Mahmut Tanal von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Dabei müssten eigentlich alle Dekrete von den Abgeordneten gebilligt werden. Beschwerden beim Menschenrechtsausschuss gegen die Dekrete seien wirkungslos, da sie nicht bearbeitet würden, sagt Tanal.
Kritik unerwünscht, aber nicht wirkungslos
Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses, Mustafa Yeneroglu, sieht die Türkei zu Unrecht in der Kritik und fordert mehr Verständnis für das Land. Schließlich sei die Türkei nicht nur mit einer Welle von Anschlägen konfrontiert, sondern müsse auch gegen die Gülen-Bewegung kämpfen. Er würde sich wünschen, dass Deutschland endlich die Bedrohung durch die Gülen-Bewegung ernst nehme, statt ihren geflohenen Anhängern Zuflucht zu gewähren, fordert der AKP-Abgeordnete, der in Deutschland aufgewachsen ist und dort Jura studiert hat.
Die Delegation des Deutschen Anwaltvereins ist nach ihrem Besuch in Ankara ernüchtert. Seitens der Regierung sieht sie wenig Bereitschaft, auf Kritik und Bedenken einzugehen. Doch ganz vergeblich ist der Druck aus Europa womöglich nicht: Wenige Tage nach den Gesprächen der deutschen Anwälte mit ihren türkischen Kollegen veröffentlichte die Regierung ein neues Dekret. Es revidiert eine frühere, besonders umstrittene Notstandsverordnung. Diese hatte erlaubt, Verdächtige bis zu 30 Tagen in Polizeigewahrsam zu nehmen, ohne dass ihnen in den ersten fünf Tagen Zugang zu einem Anwalt gewährt werden musste.
Das neue Dekret erscheint just an dem Tag, da in Straßburg die Parlamentarische Versammlung des Europarats zusammentritt, um unter anderem über die Lage der Demokratie und Pressefreiheit in der Türkei zu beraten. Im Vorfeld der Debatte waren Forderungen laut geworden, die Türkei unter "full monitoring" zu stellen, um die Einhaltung der Standards des Europarats zu überprüfen. Das neue Dekret deutet nun darauf hin, dass auch wenn Präsident Erdoğan öffentlich auf die Meinung der Europäer pfeift, ihm die Beziehung zu Europa doch nicht ganz egal zu sein scheint.