Türkei: Aufhebung der Immunität beschlossen
20. Mai 2016Das türkische Parlament hat auf Betreiben von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten beschlossen. Der von der Regierungspartei AKP eingebrachte Entwurf erhielt 376 der 550 möglichen Stimmen, wie Parlamentspräsident Ismail Kahraman mitteilte. Der umstrittene Plan, der die Strafverfolgung von Abgeordneten ermöglicht, richtet sich vor allem gegen die Abgeordneten der Kurdenpartei HDP.
Verfassung wird geändert
Erdogan wirft den HDP-Abgeordneten vor, der "verlängerte Arm" der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Erdogan hatte dazu aufgerufen, ihre Immunität aufzuheben. Die Aufhebung der Immunität geschieht über eine befristete Verfassungsänderung.
Konkret stimmten die 376 Abgeordneten dafür, einen Satz aus Artikel 83 für jene 138 Mitglieder der Nationalversammlung auszusetzen, denen Straftaten vorgeworfen werden. Der Satz besagt: "Ein Abgeordneter, der vor oder nach der Wahl eine Straftat begangen haben soll, darf nicht festgenommen, verhört, verhaftet oder vor Gericht gestellt werden, wenn die Versammlung nicht anderweitig entscheidet." 138 Abgeordnete stimmten dagegen. Damit ist der Weg für eine Strafverfolgung frei.
Angst der HDP vor Festnahme von Abgeordneten
Die HDP befürchtet die Festnahme von Abgeordneten ihrer Fraktion, gegen die vor allem Terrorvorwürfe erhoben werden. Parlamentarier anderer Parteien sehen sich Anschuldigungen wie etwa Amtsmissbrauch ausgesetzt. Die 138 Abgeordneten, denen die Immunität entzogen wird, verteilen sich auf alle vier Parteien im Parlament: Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu gehören 27 zur islamisch-konservativen AKP (317 Sitze), 51 zur Mitte-Links-Partei CHP (133 Sitze), 50 zur pro-kurdischen HDP (59 Sitze) und neun zur ultrarechten MHP (40 Sitze). Außerdem soll der einzigen parteilosen Abgeordneten die Immunität entzogen werden.
Kritik aus Berlin - Merkel trifft Erdogan in Istanbul
Bundesjustizminister Heiko Maas kritisiert das Votum des türkischen Parlaments. "Kritische Abgeordnete dürfen nicht willkürlich der Strafverfolgung ausgesetzt sein", sagte Maas in Berlin. "Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, darf sie ihren Rechtsstaat nicht aushöhlen." Bundesinnenminister Thomas de Maizière sprach von einer Belastung der Beziehungen. Eine "innenpolitsche Entwicklung dieser Dimension wirft mindestens einen Schatten auf die Beziehungen" und erfülle mit Sorge, so de Maizière.
Auch Regierungssprecher Steffen Seibert äußerte Sorge. Die Bundesregierung messe der Presse- und Meinungsfreiheit eine zentrale Rolle in jeder lebendigen Demokratie bei, betonte er in der Bundeshauptstadt. Seibert: "Das gilt nicht nur für die Arbeit der Presse, das gilt für den öffentlichen Ausdruck aller Bürger, die sich am politischen und am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen wollen - und gilt insbesondere auch für deren gewählte Vertreter, die ihr Mandat frei und unabhängig ausüben können müssen".
Seibert teilte in diesem Zusammenhang auch mit, dass Kanzlerin Angela Merkel am Montag in Istanbul mit Erdogan zusammenkommen werde. Merkel werde den Staatschef am Rande eines UN-Nothilfegipfels treffen.
sti/kle (afp, dpa rtr)