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Tagung mit Tabus

Sabine Peschel15. März 2002

Tagung mit Tabus: Auf dem Nationalen Volkskongress in China blieben erneut wichtige Zukunftsfragen ausgeklammert. Ein DW-Kommentar von Sabine Peschel.

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Stabilität und Einheit - das sind die Begriffe, an denen sich die chinesische Regierung vor dem 16. Parteitag im Herbst diesen Jahres strategisch orientiert. Sie standen auch im Zentrum aller Pläne, die - wie nicht anders zu erwarten - in Peking bei der 5. Sitzung des 9. Nationalen Chinesischen Volkskongresses verabschiedet wurden. Ein Rekordhaushaltsdefizit von umgerechnet 43 Milliarden Euro soll langfristig wirksame infrastrukturelle Maßnahmen und ein konstantes Wirtschaftswachstum von sieben Prozent ermöglichen. Um fast ein Fünftel steigende Militärausgaben sind ein deutliches Signal an Taiwan, aber auch Beruhigung für die Nationale Volksarmee. Die desolate Situation der Landwirtschaft mit sinkenden Einkommen bei den Bauern, bereits jetzt durch den WTO-Beitritt dramatisch verschärft, soll durch Umbau und Investitionen verbessert werden.

All das erscheint sinnvoll und unausweichlich, will China seinen Aufbruch in die Zukunft fortsetzen und die durch die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation entstandenen Bedingungen bewältigen. Diese Zielsetzung war mit dem letzten Fünf-Jahres-Plan beschlossen worden, der unter anderem die Erschließung der ärmeren westlichen Landesteile vorsieht. Nur: Die Frage, wie lange sich das Land eine aktive Finanzpolitik mit massiven Staatsausgaben leisten kann, blieb bei der Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses weiter offen.

Unbeantwortet bleibt auch, wie die weiterhin auf allen Ebenen verbreitete und auf dem Volkskongress erneut heftig kritisierte Korruption eingedämmt, wenn schon nicht beseitigt werden kann. Dass die von Ministerpräsident Zhu Rongji zum persönlichen Projekt stilisierte Anti-Korruptions-Kampagne gescheitert ist, belegen zahlreiche Fälle von Bestechung und persönlicher Bereicherung unter hohen wie niederen Kadern - mit zum Teil horrenden Summen. Einstürzende Gebäude, zerbröselnde Straßen, die mit minderwertigen Materialien, aber für gutes Geld in offene Taschen gebaut werden, sind nicht nur traurige Realität, sondern auch Symbol für die
Scheinhaftigkeit des großen chinesischen Strukturwandels.

Die Themen des diesjährigen Jahrestagung waren im großen Ganzen dieselben wie im letzten Jahr - beziehungsweise ihre schlüssige Fortsetzung. Das Primat der Wirtschaft bleibt unangefochten. Aber wie schon 2001 tat sich in allen Berichten und bei allen Beschlüssen ein großes leeres Feld auf: das der Politik. Stabilität und Einheit sind gute und für ein so großes Volk wie das chinesische wichtige Ziele. Doch erscheinen sie nur als Illusion, hinter der sich Rivalitäten und Machtkämpfe abspielen.

Die Pfründe, um die es dabei geht, sind nicht abstrakt, sondern bedeuten die Herrschaft über Wirtschafts- und Militärimperien. Politische Strategien, wie Entscheidungen der Zentralregierung effektiver umgesetzt werden könnten, wurden auf der diesjährigen Tagung nicht entwickelt. Kein Thema war, wie die konkurrierenden und sich oft gegenseitig blockierenden Aktivitäten von Provinzregierungen nicht die nationale Prosperität gefährden könnten. Keine klaren Äußerungen auch zur Frage der Nachfolgekandidaten an der politischen Spitze. Keine offene Diskussion verschiedener Fraktionen. Warum eigentlich nicht?

In China gibt es ein ideologisches Vakuum, dessen Sog immer stärker wird. Die verarmte Landbevölkerung ist längst nicht mehr mit der Parole "Reich werden mit unterschiedlicher Geschwindigkeit" abzuspeisen. Aus bankrotten Staatsbetrieben entlassene Industriearbeiter demonstrieren zu Zehntausenden. Falun-Gong-Anhänger senden während der Tagung des Volkskongresses fast eine Stunde lang unerlaubt aus dem Provinzfernsehen in Changchun. Und Intellektuelle verschiedenster politischer Couleur diskutieren immer öffentlicher und in immer gewichtigeren Zirkeln die Bewertung der Niederschlagung des Studentenaufstands 1989 und Chinas politischen Zukunftskurs. Es ist bekannt, dass auch Oppositionelle zu den heimlichen Beratern von Chinas Regierenden gehören. Längst sind in der Spitze der Partei höchst unterschiedliche Richtungen vertreten. Aber eine offene politische Diskussion ist für die 2987 von lokalen Kadern handverlesenen Delegierten weiterhin mit einem strikten Tabu belegt.

Der 73-jährige Präsident des Nationalen Chinesischen
Volkskongresses, Li Peng, ist im chinesischen Volk wenig beliebt. Wenn er im Herbst diesen Jahres zusammen mit Präsident Jiang Zemin und Ministerpräsident Zhu Rongji sein Parteiamt niederlegen und im März nächsten Jahres ersetzt werden wird, wird eine neue Politiker-Generation die Macht übernehmen. Doch besteht kaum Hoffnung, dass Chinas neue Führung politische Meinungsbildung, Transparenz, ja - Demokratisierung als notwendige und gegebene Möglichkeit für Stabilität, Aufschwung und Einheit erkennen wird.