Tausende afrikanische Familien zerrissen
13. Oktober 2022Vier Jahre schlug sich Abdo (Name geändert) ohne seine Familie durch, noch ein Kind, ganz auf sich allein gestellt. Der Krieg im Südsudan, der 2013 begann, war geprägt von Angriffen auf Zivilisten, von sexueller Gewalt, Plünderung und der Rekrutierung von Kindersoldaten. Und er riss Tausende Familien auseinander - so auch die von Abdo. Der heute 22-Jährige floh damals, mit gerade einmal 13 Jahren, auf eigene Faust aus Tombura im Westen des Landes. Erst 2017 wurde Abdo mithilfe des UN-Kinderhilfswerks UNICEF wieder mit seiner Mutter vereint.
"Ich habe nur gegessen, um am Leben zu bleiben, aber ich habe es nie genossen. Ich war unglücklich, weil ich an meinen Sohn denken musste, mich fragte, wo er ist", erzählt Elena, Abdos Mutter, in einem Bericht des UNICEF. "Es war schwer, ihn zu vergessen, weil ich ihn nicht tot gesehen und begraben habe."
In den Bürgerkriegsjahren zwischen 2013 und 2018 haben die Hilfsorganisationen Save the Children und UNICEF und Partnerorganisationen im Südsudan mehr als 6000 Kinder erfolgreich mit ihren Familien zusammengeführt. Doch ein Jahr später waren immer noch 8000 Kinder von ihren Familien getrennt oder wurden vermisst.
Kinder am verletzlichsten
Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) werden in ganz Afrika im Jahr 2022 mehr als 25.000 Minderjährige vermisst, das sind rund 40 Prozent der 64.000 Fälle von verschwundenen Personen, die das Rote Kreuz auf dem gesamten Kontinent registriert hat. "Wir haben eine beträchtliche Anzahl von Anfragen, aber wir wissen, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist", sagt Céline Doutrelugne, IKRK-Managerin für den Schutz von Familienbeziehungen für das östliche, zentrale und südliche Afrika, im DW-Interview.
Auch der Konflikt in der äthiopischen Region Tigray hat viele Kinder von ihren Eltern getrennt. Mehr als 5000 waren es nach Angaben von Save the Children im Mai 2021. Und im Osten der Demokratischen Republik Kongo (DRK) haben demnach allein im Juli dieses Jahres 800 Kinder ihre Eltern auf der Flucht vor Kämpfen zwischen bewaffneten Gruppen verloren.
"In der Krise in der DRK sind Kinder am meisten gefährdet", betont Arjika Barké, Direktor für Programmabläufe von Save the Children International in Goma. "Sie machen die Hälfte aller Vertriebenen aus und sind sehr gefährdet durch Gewalt, Menschenhandel, sexuellen Missbrauch, Rekrutierung in bewaffnete Gruppen, Inhaftierung, Ausbeutung... Die Liste ist lang."
Mit der Flucht kommt das Verschwinden
"Es gibt verschiedene Gründe, aus denen Menschen getrennt werden können: Konflikte, Migration, Naturkatastrophen", erklärt Doutrelugne. In Afrika zählt das "Portal für Rechtsstaatlichkeit in bewaffneten Konflikten" heute mehr als 35 bewaffnete Konflikte; Tausende Menschen überqueren jedes Jahr Staatsgrenzen, die Sahara oder das Mittelmeer auf der Suche nach Sicherheit. Diese Reisen sind oft mit großen Risiken verbunden, auch mit dem Risiko, den Kontakt zu verlieren.
Nach Berichten der Denkfabrik Institute for Security Studies stammt die Mehrheit der Vermissten aus elf Ländern, darunter Kamerun, Eritrea, Somalia, die Elfenbeinküste, Guinea, Senegal und Sierra Leone. Allein in Nigeria werden laut IKRK mehr als 25.000 Menschen vermisst, darunter fast 14.000 Kinder - die höchste Zahl in Afrika. Nigeria hat im vergangenen Jahr ein Register für vermisste Personen eingerichtet und nach eigenen Angaben einige Erfolge bei der Suche und Zusammenführung mit ihren Familien erzielt.
Anlaufstellen für Suchende
Viele Organisationen bieten zerrissenen Familien Suchdienste an: Das IKRKist in 26 afrikanischen Ländern aktiv, Save the Children hat Projekte in über 30 afrikanischen Ländern. Manchmal ist das Ergebnis die Wiederzusammenführung der Familie, manchmal die Klärung der Frage, was aus einem Verwandten geworden ist. In seinem Jahresbericht 2020 gibt das Rote Kreuz an, allein in Afrika mehr als 740.000 Telefongespräche zwischen Familien ermöglicht und 874 Personen, zumeist Kinder, mit ihren Familien zusammengeführt zu haben.
Auch die Internationale Kommission für vermisste Personen (ICMP) oder kirchliche Gruppen wie die Heilsarmeesind Anlaufstellen bei der Aufspürung von vermissten Personen. Online-Dienste wie "Trace the Face" konzentrieren sich auf diejenigen, die auf dem Seeweg nach Europa verschwunden sind.
Eine schwierige Suche
Die Suche ist ein Wettlauf gegen die Zeit: Je länger ein Kind von seiner Familie getrennt ist, desto schwieriger ist es, es ausfindig zu machen. "Es bedarf einer globalen Anstrengung", betont Barké von Save the Children. "Zwar können die meisten Kinder am Ende wieder mit ihren Familien zusammengeführt werden, aber dies kann einige Monate oder sogar Jahre dauern."
Denn bei der Suche gibt es große Hindernisse, sagt Doutrelugne. "Man muss in der Lage sein, innerhalb und außerhalb des Landes oder sogar des Kontinents zu suchen. Menschen können inhaftiert sein und ihre Familien deswegen nicht kontaktieren. Oder es gibt logistische Probleme: Vielerorts gibt es keine Internetverbindung, man muss sich persönlich auf die Suche nach der Person begeben. Der Zugang zu Gebieten ist aufgrund der Infrastruktur oder von Konflikten schwierig. Die Menschen sind über den ganzen Kontinent verstreut, ohne ein festes Ziel. Und sie könnten auch tot sein."
Um möglichst viele Familien zusammenzuführen, seien drei Dinge entscheidend, so Barké. "Erstens, Prävention. Das heißt, Familien von vornherein zu sensibilisieren, damit sie verstehen, wie wichtig es ist, dass Kinder während der Vertreibung mit ihrer Familie verbunden bleiben. So können Trennungen vermieden werden. Dann die Unterstützung der Gemeinden bei der Identifizierung von Kindern, sowie grenzüberschreitende Maßnahmen. Und zuletzt müssen Kinder schnell wieder mit ihren Familien vereint werden, und das erfordert ein unglaubliches Maß an Zusammenarbeit und langfristige Investitionen: Arbeitskraft, technische, finanzielle und operative Mittel."
Das bedeutet auch eine gute internationale Zusammenarbeit. Doutrelugne setzt hier auf eine noch stärkere Unterstützung der Länder. "Es ist wichtig, dass die Familien wissen, wo sie suchen und an welche Behörden sie sich wenden müssen. Behörden der Länder müssen sich koordinieren und Informationen austauschen. Außerdem muss es möglich sein, mit der Familie zu kommunizieren." Hier spielt nicht zuletzt der Ausbau des Mobilfunknetzes eine Rolle. Denn jede kleine Nachricht und Information kann dazu führen, dass zerissene und über ganz Afrika verstreute Familien einander schnell wieder in die Arme schließen können.