Techau: "Militärische Antwort der NATO nahezu undenkbar"
27. April 2014Deutsche Welle: Wie würde die NATO reagieren, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert?
Jan Techau: Die NATO würde das vehement verurteilen. Aber wer glaubt, dass die NATO die Ostukraine militärisch verteidigen wird, der liegt falsch. Ich glaube nicht, dass irgendein NATO-Staat bereit ist, Truppen dorthin zu schicken. Es wird keine militärische Antwort geben, das ist sicher, und Wladimir Putin weiß das.
Die Ukraine ist kein NATO-Mitglied. Aber würden sich nicht NATO-Mitglieder wie Polen oder Staaten im Baltikum durch einen Einmarsch Russlands in die Ukraine bedroht fühlen in ihrer territorialen Integrität?
Diese Länder fühlen sich durch die Entwicklungen in der Ukraine schon lange bedroht. Die NATO tut viel, um diesen Ländern Rückendeckung zu geben. Zum Beispiel durch eine Erhöhung der Truppenpräsenz. Die USA halten gerade Militärübungen in Polen ab und Deutschland wird im Laufe des Jahres Flugzeuge ins Baltikum schicken, um den Luftraum zu überwachen. Andere Länder tun das auch. Aber trotzdem wird es keine militärische Reaktion geben, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert.
Hat die verstärkte Präsenz der NATO entlang seiner östlichen Grenzen denn überhaupt Auswirkungen?
Es ist nicht klar, wie das von Moskau aufgenommen wird. Russland setzt darauf, die politische Kontrolle über die Ukraine zurückzubekommen. Das passiert sehr systematisch. Putin geht es nicht um weitere Länder, er will die Ukraine zurück.
Um das klarzustellen: Sie sagen, dass Russland die Kontrolle über die gesamte Ukraine zurückgewinnen will, auch über den Westen des Landes mit der Hauptstadt Kiew?
Ich spreche von politischer Kontrolle, nicht von der Besetzung eines ganzen Landes. Ich glaube nicht, dass Russland eine Militäroperation in der gesamten Ukraine plant. Es geht darum, wer das Land regiert. Präsident Janukowitsch hat für Russland lange die Stellung gehalten. Aber dann ist er geflohen, und jetzt versucht Russland, die Kontrolle zurückzubekommen. Russland versucht, das Gebiet so eng wie möglich an sich zu binden. Dazu muss es wieder einen russlandfreundlichen Präsidenten geben. Die neue Regierung darf keinen Erfolg haben. Sie muss auf ganzer Linie scheitern. Es ist noch nicht zu erkennen, ob Russland das möglichst schnell erreichen will - also bis zu den Wahlen im Mai - oder ob Moskau versucht, das in ein bis zwei Jahren umzusetzen. Aber das Ziel ist so oder so klar.
Welches Ergebnis können dann die Gespräche zwischen Russland und den USA haben?
Russland war immer schon der Meinung - und das ist offiziell -, dass die Ukraine kein eigenständiger Staat ist. Das hat Putin immer wieder betont. Dass die Ukraine ihre politische Zukunft jetzt selbst bestimmen will, ist ein absolutes Tabu für Russland. Die USA sagen, dass die Ukraine dieses Selbstbestimmungsrecht haben muss. Dieser Hauptkonflikt steht einer Einigung im Wege.
Das ausgehandelte Genfer Abkommen ist offenbar nicht eingehalten worden. US-Präsident Barack Obama hat deshalb mit Wirtschaftssanktionen gedroht. Werden diese Sanktionen kommen?
Zunächst einmal: Das Genfer Abkommen war für Russland nur ein Spiel auf Zeit. Moskau hat das Ergebnis des Abkommens taktisch sehr klug für die Rechtfertigung der eigenen Politik genutzt und die Regierung in Kiew beschuldigt, sich nicht daran zu halten. Was die Wirtschaftssanktionen betrifft: Europa wird da, denke ich, nicht mitmachen, auch weil Deutschland das nicht will. Nicht einmal dann, wenn Russland die politische Kontrolle über die Ukraine übernimmt. Die USA wollen scharfe Sanktionen, aber Europa will das nicht. Es bevorzugt diplomatische Versuche und sanfte Sanktionen. Wir sehen also nicht nur eine Spaltung innerhalb Europas, sondern auch eine zwischen den USA und der EU. Und das verheißt nichts Gutes für eine geeinte und starke Position gegenüber Russland.
Glauben Sie denn, dass die Ukraine ein souveränes Land bleiben kann?
Das ist völlig offen. Wenn die Situation jetzt erst mal so bleibt - und so sieht es aus -, dann arbeitet die Zeit gegen die Ukraine. Das wäre ein verheerender Rückschlag für das gesamte europäische Friedenssystem nach dem Kalten Krieg. Denn bisher war klar, dass die territoriale Integrität eines Landes garantiert war. Jetzt fallen wir zurück in Zeiten der Gewalt, in denen ein Land, solange es nur dreist und schlagkräftig genug ist, die Grenzen neu ziehen kann. Diese Art von Europa wird einer dunklen Zukunft entgegengehen.
Jan Techau ist der Leiter der Denkfabrik Carnegie Europe in Brüssel, dem europäischen Ableger von Carnegie Endowment for International Peace mit Sitz in Washington.
Das Gespräch führte Nina Haase.