Alexander Zverev bleibt der Unvollendete
11. Juni 2021Wer den Tennissport länger schon beobachtet, der erinnert sich gerne an Vitas Gerulaitis, US-Tennisprofi mit wallender blonder Mähne, der in den 70er Jahren zu den schillerndsten Gestalten der Szene gehörte. Frauenheld, Playboy, Liebling der Journalisten - ein Mann wie gemacht für das Showgeschäft Profisport. Leider hat sich Gerulaitis nie genug gequält, um ganz nach oben zu kommen. Ein Poster-Boy.
Wie gemacht für das Showgeschäft Profisport
Ein Mann mit wallender blonder Mähne, wie gemacht für das Showgeschäft Profisport? Da ist längst wieder einer, ein Deutscher, über den nicht nur Beobachter, sondern auch die mächtigen Konkurrenten seit Jahren sagen: Der hat das Zeug, ein ganz Großer zu werden. Doch seitdem wartet man. Auf den ganz großen Erfolg. Dabei bleibt es auch nach dem Ausscheiden Zverevs im Halbfinale von Roland Garros gegen Stefanos Tsitsipas: 3:6, 3:6, 6:4, 6:4, 3:6. Ein großer Kampf, aber der Deutsche unterlag.
Männer wie Gerulaitis und Zverev miteinander zu vergleichen, ist ein wenig ungerecht. Denn anders als der US-Amerikaner ist Zverev ein fleißiger Profi, jemand, der kontinuierlich an sich arbeitet, der mit dem berüchtigten Fitness-Coach Jez Green das Schlaksige der 198 Zentimeter Körperlänge ab- und ordentlich Muskeln zugelegt hat. Auf der anderen Seite läuft Zverev mit jedem Jahr ohne Grand-Slam-Erfolg Gefahr, das Image des Unvollendeten zu manifestieren.
Im vergangenen Jahr hatte er es auf dem Schläger - im Finale der US Open, das pandemiebedingt unter besonderen Bedingungen stattfand. Zverev verlor gegen Dominic Thiem - und kann das Bild des Unvollendeten wohl selbst kaum noch hören. Zumal Menschen, die Zverev gut kennen, dies für einen Teil des Problems halten. "Er muss vielleicht anders filtern", sagte Boris Becker früh. Zu viel Druck, zu viele Erwartungen.
Die Eltern gaben ihm alles mit
Inzwischen sieht es der 24-jährige selbst ein. Bei der Pressekonferenz in Paris nach dem Viertelfinale erklärte der in Monte Carlo lebende Zverev: "I'm confortable, I'm happy." Er fühle sich wohl und sei fröhlich - und fügte mit einem Blick auf die Vergangenheit hinzu: "I was not very patient to myself." Mangelnde Geduld, die sich oft in reichlich vor Wut zerhackten Schlägern auf dem Platz manifestierte. Das scheint besser geworden - auch wenn darüber höchstens der Schläger-Sponsor eine Strichliste führt.
Seine Eltern haben ihm alles mitgegeben. Vater Alexander senior, einst für die Sowjetunion im Davis-Cup-Team, ist bis heute der Coach, der seinen Sohn am besten erreicht. Die Mutter brachte ihm die ersten Schläge bei, Bruder Mischa - selbst erfolgreicher, aber von Verletzungen gebeutelter Tennisprofi - gibt den ruhenden Pool unterwegs auf der Tour. Das kann alles hilfreich sein beim letzten, allerdings großen Schritt nach oben.
Wenn, wenn da nur nicht die Alten wären. Gerade Novak Djokovic und Rafael Nadal haben auch im fortgeschrittenen Stadium ihrer Karriere eine gewaltige Dominanz, gerade in den wichtigen Momenten. Und selbst der "Grandseigneur" Roger Federer, der im August 40 (!) wird, dürfte etwa in Wimbledon ungeachtet seiner noch nicht ganz überwundenen Knieoperationen auf dem Zettel stehen. Zverev bleibt der Angreifer.
"Erwachsener geworden"
Im Interview mit dem ZDF sagte er 2017 selbst: "Es gab schon so viele Super-Talente in unserem Sport, die es nie ganz nach oben geschafft haben." Das ist vier Jahre her. Damals war Zverev die Nummer vier der Welt. Aktueller Stand: Nummer sechs. Stagnation? Wer das so sieht - und ein Teil der deutschen Öffentlichkeit neigt dazu - vergisst: Es ist bereits eine Riesenleistung, sich über Jahre in dieser so umkämpften Weltspitze zu halten. Zwischendurch gewann Zverev die ATP-Weltmeisterschaft. "Er ist für mich erwachsener geworden", sagte Boris Becker als Eurosport-Kommentator vor dem Halbfinale in Paris über Zverev.
Die harte Währung
Vitas Gerulaitis übrigens ist bei den meisten Tennis-Fans inzwischen in Vergessenheit geraten. Aber: Er gewann 1977 die Australian Open - und gehört damit auf ewig in die Hall of Fame seines Sports. Alexander Zverev, genannt Sascha, weiß: Das ist die harte Währung, in der die Profis bewertet werden.