Der Unaufhaltsame
5. September 2017Ein Moment, der die staunenden Zuschauer fast schon beruhigte: 60. Minute, der Ball fliegt in den norwegischen Strafraum, wird abgefälscht und landet vor den Füßen von Timo Werner. Der ist verdutzt, reagiert einen Sekundenbruchteil zu spät und vergibt die Chance zu seinem dritten Tor an diesem eindeutigen Fußball-Abend. Auch Timo Werner gelingt nicht alles. Die Tatsache, dass dies eine bemerkenswerte Feststellung ist, sagt viel über den Stürmer, der Fußball-Deutschland momentan verzückt.
Acht Länderspiele, sechs Tore - eine Quote besser als Miroslav Klose zu Beginn seiner Länderspielkarriere. Timo Werner ist nach seinen zwei Toren beim 6:0 (4:0)-Sieg gegen Norwegen mehr als angekommen in der Nationalmannschaft. Manche Experten sehen ihn im Angriff bei der Welmeisterschaft in Russland schon als gesetzt an. Das geht nach acht Partien im Dress mit dem Bundesadler vielleicht ein bisschen arg schnell. Aber angesichts der eher durchwachsenen Leistungen der Sturm-Konkurrenz scheint diese Perspektive gar nicht ausgeschlossen.
Nicht zu stoppen
Timo Werner, 21 Jahre jung, Vollblutfußballer. Einer, der gesegnet ist mit vielen Talenten: Er ist extrem schnell, dazu sicher am Ball, ein Tempodribbler mit sehr engem Wendekreis und einem Torinstinkt, den man so wohl nicht antrainieren kann. Vor allem aber hat er den Willen. Werner will den Erfolg und das spürt man auf dem Platz. Mit seinem enormen Elan ist er nur schwer für Verteidiger zu stoppen. Und doch ist er einer der unbeliebtesten Spieler der Bundesliga.
Auf der Suche nach den Gründen dafür begegnet man vielen Erklärungen: Manche argumentieren mit einer Schwalbe, die Werner in einem Ligaspiel gegen Schalke zeigte. Ein dreister Flug über die Arme des am Boden vor ihm liegenden Schalker Keepers Ralf Fährmann, sicher. Aber eine von vielen Schwalben im Laufe einer Bundesligasaison. Dass Werner daraufhin deutschlandweit mit Schmähgesängen verunglimpft wird, die wir hier nicht wiederholen möchten, entbehrt aber jeglicher Grundlage. Selbst Polizisten machten mit einem entsprechenden "Song" auf Youtube Negativ-Schlagzeilen. Beinahe Jeder Stadioneinlauf von ihm wird von Pfiffen begleitet. Timo Werner, das Fußball-Feindbild, wegen einer Schwalbe? Diese allein erklärt das Phänomen nicht.
Der Emporkömmling vom Emporkömmling-Verein
Werner spielt für Emporkömmling RB Leipzig, ein Verein, der für viele Fans in Deutschland für Kommerz und traditionslosen Fußball steht. Werner wurde als junger Leistungsträger schnell zur Symbolfigur des aufstrebenden Brause-Klubs - und damit eben auch zur Reizfigur für die Anhänger anderer Teams, denen der schnelle Aufstieg der Leipziger ein großer Dorn im Auge ist. Werner, der sich selbst als "zurückhaltend, manchmal schüchtern" bezeichnet, versuchte die Beschimpfungen so gut es geht zu ignorieren. Und er leistete öffentlich in Interviews Abbitte: "Man weiß, dass man einen Fehler gemacht hat", sagte er etwas unpersönlich, wie medientrainierte Fußballer nun mal reden.
Nachdem er sich beim Skandal-Spiel von Prag erneut Schmähgesängen unter der Gürtellinie ausgesetzt sah, sagten ihm einige Beobachter ein schweres Spiel in Stuttgart voraus. Schließlich tragen dem gebürtigen Stuttgarter bis heute viele VfB-Fans nach, dass Werner den Verein nach dem Abstieg im Sommer 2016 verließ. Doch dann das: "Timo Werner, Timo Werner" schallte es von den Rängen. Das Stuttgarter Publikum stand im Spiel gegen Norwegen von Beginn an hinter dem Sohn der Stadt. Als der dann noch richtig aufdrehte, wurde Werner gefeiert: Mit einem Linksschuss machte er bereits nach 20 Minuten das 3:0, in der 40. Minute per Kopfball sehenswert dann das 4:0. "Es hat viel Spaß gemacht", lobte Löw sein Team und meinte damit auch den herausragenden Werner.
Mehr Gegenwind hatte kaum ein anderer Jung-Profi
Der Angreifer belebt das Offensivspiel der DFB-Elf, die in der Abteilung Attacke zwar hervorragende Flügel- und Mittelfeldspieler hat, der aber zuletzt ein echter Killer vor dem Tor fehlte. Thomas Müller laboriert an akuter Torflaute und Mario Gomez ist auch ein großes Stück von seinen besten Zeiten entfernt. Da kommt der junge Leipziger gerade recht. "Er ist sehr schwer zu halten und sehr abschlussstark", weiß sein Vereins-Trainer Ralph Hasenhüttl. Dort übernimmt der wendige Rechtsfuß eine Schlüsselrolle. In der Vorsaison erzielte er 23 Liga-Tore für Leipzig, in den ersten beiden Spielen der laufenden Saison schon wieder zwei. Timo Werner ist der vielleicht interessanteste Spieler, den Weltmeister Deutschland derzeit zu bieten hat. Sein Marktwert beträgt laut transfermarkt.de 25 Millionen - Tendenz rasch steigend.
Als Werner nach einer guten Stunde im Spiel gegen völlig überforderte Norweger ausgewechselt wird, gibt es Standing Ovations. Das komplette Stadion steht und klatscht. "Ich bin beeindruckt von dem feinen Gespür, das das Publikum im Umgang mit Timo Werner hatte. Er hat es mit zwei Toren zurückgezahlt", freut sich DFB-Präsident Reinhard Grindel. Auch der Bundestrainer klatscht Werner lobend ab. Der setzt sich kurz darauf einfach still auf die Bank. Er hat schon viele Emotionen in Fußballstadien erlebt und möchte weder die einen noch die anderen zu sehr an sich heranlassen, so scheint es. Nur zu verständlich nach den Anfeindungen gegen ihn.
Im Interview nach dem Spiel gibt er dann doch noch einen kleinen Einblick in sein Seelenleben. "Ich freue mich, dass ich jetzt auch in der Nationalelf in der Häufigkeit treffe, in der Heimat ganz besonders", so Werner, der fortfährt: "Das bedeutet mir sehr viel. Es waren andere Umstände, als ich den Verein (VfB Stuttgart, Anm. d. Red.) verlassen habe. Jetzt freut es mich umso mehr." Vielleicht wird im Rückblick dieser Abend eine Wende in der Karriere des Timo Werner markieren, die so vielversprechend ist - vielleicht auch, weil er gezeigt hat, dass ihn auch stärkster Gegenwind nicht umweht.