"EU ist ehrlich am Balkan interessiert"
12. Juli 2017Deutsche Welle: "Die Stiefkinder des Kontinents" – so wurden neulich die Westbalkanländer in einem SPIEGEL-Artikel genannt. In letzter Zeit wird in deutschen Medien häufig darüber geschrieben, dass die EU auf dem Balkan viel Anziehungskraft verloren hat. Stimmt dieser Eindruck?
Tobias Flessenkemper: Wir müssen da unterscheiden zwischen der Anziehungskraft auf die politische Führung dieser Länder und der Anziehungskraft der Europäischen Union auf die Bevölkerung in den Westbalkanländern. Wenn wir uns die Bevölkerung dieser Länder anschauen ist das Gegenteil der Fall. Nach wie vor bleibt die Europäische Union ein ganz attraktives Modell. Es reicht, wenn wir uns nur anschauen, wie viele Arbeitskräfte zwischen den Balkanländern und Ländern der Europäischen Union hin- und herreisen. Und nach wie vor, trotz aller Versuche sowohl Russlands als auch der Türkei, dort kulturell Fuß zu fassen, bleiben natürlich die kulturellen und anderen Angebote der EU sehr attraktiv für die Bevölkerung. Natürlich aber merken die Menschen auf dem Balkan, dass das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell wie es ihnen jetzt vorgetragen wird, also Reformen zu unternehmen und damit dann Wachstum und Auslandsinvestitionen zu stimulieren, nicht immer so gut funktioniert. Dazu reicht den Menschen im Westbalkan ein Blick nach Griechenland, um zu sehen, dass ein Land, das 36 Jahre lang schon Mitglied der EU ist, durchaus nicht immer profitiert hat von dem Modell.
Und wie sehen das die Politiker der Westbalkanländer?
Auf der politischen Ebene ist das Bild etwas diffuser und komplizierter. Es gibt natürliche konkrete Erfolge. Ein Beispiel ist Kroatien, das 2013 der EU beigetreten ist. Montenegro verhandelt sehr erfolgreich mit der EU und ist jetzt Mitglied der NATO geworden, davor ist Albanien in die NATO aufgenommen. Also wir sehen dort auf jeden Fall eine Hinwendung zu westlichen Bündnissen, zu westlichen Organisationen in Teilen der Region. In anderen Regionen sehen wir, dass es da durchaus ein Schwanken gibt. Wenn man nach Serbien schaut, ist da nach wie vor dieses Problem, dass es verschiedene Abkommen mit Russland gibt, auch im Militärbereich. Zudem ist der politischen Führung Serbiens nicht ganz klar, wie weit man sich auf das europäisch-westliche Modell einlassen will oder vielleicht doch zwischen den Modellen stehen will.
Der Balkan bleibt also der potentielle Krisenherd in Europa trotz der klar formulierten EU-Beitrittsperspektive?
Natürlich haben wir unsere Sorgenkinder auf dem Balkan, Länder wie Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Mazedonien. Alles Länder, in denen es Konflikte gab, wo die Frage "Was für einen Staat wollen wir haben?" noch nicht abschließend beantwortet ist. Und dort hat leider die Perspektive der europäischen Integration noch nicht genug Wirkung gezeigt, um zum Beispiel auch die verschiedenen Gruppen in Bosnien-Herzegowina zusammen zu führen und an einem Strang ziehen zu lassen, oder ein Land wie Mazedonien auf einen Reformkurs zu bringen.
Was politisch sehr relevant ist: Wir haben jetzt Probleme, dass Mitgliedstaaten der EU - wie zum Beispiel Griechenland gegenüber Mazedonien, aber auch Kroatiens Rolle in der Region als Mitgliedstaat der EU ist nicht immer positiv - zum Teil nicht konfliktentschärfend agieren, sondern eher Konflikte am Leben erhalten. Insofern ist auf der politischen Ebene die Attraktivität der EU sicherlich nicht mehr so stark da und wir sehen auch keinen großen Willen von Führern, diese politischen Reformen, also die Gesellschaft zu liberalisieren, die Bürgerrechte zu stärken oder überhaupt auch mehr Pluralismus herzustellen. Und ganz entscheidend bleiben im Bezug auf die politischen Eliten die Stichworte Korruptionsbekämpfung und Rechtsstaatlichkeit. Hier ist sicherlich noch viel zu tun.
Also zusammenfassend ein gemischtes Bild. Alle Umfragen bestätigen das: Die Bevölkerung findet das Modell, wie in Westeuropa und in der EU zum großen Teil gelebt, gearbeitet, gewirtschaftet wird und soziale Rechte garantiert sind, sehr attraktiv. Gleichzeitig sehen sie aber auch, dass es fraglich ist, ob das Modell für sie so greift.
Und wie ist es auf der anderen Seite? Die EU scheint nun die geopolitische und strategische Bedeutung der Balkanregion doch höher einzuschätzen als noch vor zehn Jahren. Dabei geht es vor allem um den direkten Einfluss Russlands und der Türkei. Wie sehen Sie diese Entwicklung? Ist der Balkan, wie häufig behauptet wird, die "offene Flanke" der Europäischen Union?
In der unmittelbaren Nachbarschaft der EU gibt es eigentlich nur ein Gebiet, das ganz klar eine EU-Perspektive hat und wo die Union auch etwas erreichen kann. Das ist der Balkan. Insofern konzentriert man sich nun in Brüssel auf das, wo man Gestaltungsmöglichkeiten und Gestaltungsmacht hat. Ob es eine 'offene Flanke' ist, das kann man unterschiedlich sehen. Ich persönlich vermute nicht, dass es so eine große offene Flanke ist, sondern es ist eher eine europäische Region, die sich – wenn sie vernachlässigt wird – zu einer offenen Flanke entwickeln kann. Aber ein großes Risiko für die EU stellt der Balkan nicht dar. Er stellt vielleicht ein Risiko dahingehend dar, dass man weiter Migration aus dem westlichen Balkan in die EU hat, mit der man umgehen muss. Der Balkan könnte sich wieder zu einem Hort der organisierten Kriminalität entwickeln, so wie es vielleicht vor 15 Jahren einmal war. Und einige Balkanländer können sich natürlich auch zu Sicherheitsrisiken entwickeln, zum Beispiel durch eine engere Verbindung der russischen Armee mit der serbischen Armee kommen. Und viele Leute reden auch davon, dass es zu einem kleinen Rückzugsort für manche zurückkehrende Kämpfer aus den Kriegen im Nahen Osten werden könnte. All dies sind allerdings Bedrohungsszenarien, die ganz ähnlich sind zu denen, die die EU selber hat, das ist also nichts, was den Balkan besonders auszeichnet. Aber eine 'offene Flanke' halte ich für zu dramatisch. Es ist eher eine offene Aufgabe, die die Europäische Union bewältigen kann und wo sie auch die Aussicht auf Erfolg hat.
Kann man davon ausgehen, dass die EU überhaupt ehrliche Absichten hat, wenn es um die Beitrittsperspektiven dieser Länder geht? Denn seit Jahren steht die EU-Bevölkerung einer Mitgliedschaft der Balkanländer sehr skeptisch gegenüber.
Die Europäische Union ganz klar ehrliche Absichten im Bezug auf die Beitrittsperspektive der Balkanländer. Allerdings gibt es in den EU-Institutionen und auch in vielen Mitgliedstaaten berechtigte Sorge, dass man mit diesen Ländern über die Maßen Konflikte in die EU importieren könnte. Niemand will ein zweites Zypern und auch keine Verhaltensweisen, wie wir sie momentan in dieser Region sehen, wie zum Beispiel die Verhaltensweise Kroatiens gegenüber Nicht-EU-Mitgliedstaaten der Region. Es geht ganz konkret darum, dass die politischen Probleme des 19. und 20. Jahrhunderts in den Ländern wirklich nachhaltig gelöst werden müssen. Denn eine wirtschaftliche, ökonomische, soziale und auch politisch akzeptable Perspektive für die Länder des westlichen Balkan herzustellen, ist nicht das entscheidende Problem für die EU. Wir reden von weniger als 20 Millionen Bevölkerung, das ist ein kleiner oder mittelgroßer neuer Mitgliedsstaat für alle EU-Länder zusammen.
Ein Beitritt der Balkanländer hat also Ihrer Meinung nach gar keine Sprengkraft für die EU, die sich selber seit Jahren in einer Dauerkrise befindet?
Am Ende ist es wirklich nur noch ein politisches Problem. Sind die Balkanländer so verfasst, dass sie das mittragen können, was in der EU gemeinsam beschlossen wird? Es wird in der EU mit dem Austritt Großbritanniens weniger Differenzierung geben. Es wird innerhalb der neuen EU ohne Großbritannien vermutlich ein einheitlicheres System geben und eine höhere Regelungsharmonie. Und das muss dazu führen, dass diese Regeln eingehalten werden, dass man Vertrauen hat, dass diese gemeinsamen Beschlüsse umgesetzt werden. Wenn wir uns das Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo anschauen, die Verhandlungen, die seit 2013 zur Normalisierung geführt worden sind, sehen wir immer wieder, dass von beiden Parteien nicht alles so umgesetzt wird, wie es besprochen wurde, bzw. dass der Wille fehlt, bestimmt Kompromisse zu schließen und kreativ an Lösungen zu arbeiten. Das darf in der Zukunft nicht der Fall sein, wenn wir über wichtige Entscheidungen in der EU reden. Denn dann könnten der serbische Präsident Aleksandar Vucic oder der Präsident des Kosovo Hashim Thaci durchaus im Europäischen Rat sitzen und dort Gesetze machen für 500 Millionen Europäer. Im Moment ist diese Situation nicht richtig vorstellbar, dass man mit diesen gewählten Politikern aus den Balkanländern Gesetze machen kann, die für 500 Millionen Europäer gelten und dann auch entsprechend durchgesetzt werden.
Es gibt offenbar noch viel zu tun? Was erwarten Sie nun von dem Gipfeltreffen in Triest? Was müsste jetzt getan werden, damit es endlich vorwärts geht?
Es ist ganz wichtig, dass man noch einmal auf höchster Ebene, jetzt auch mit dem neuen französischen Präsidenten Macron, mit Merkel, mit den Staats- und Regierungschefs aus der Region, ein Signal setzt für die Bereitschaft, zusammen zu arbeiten. Das Signal, das von Triest ausgehen sollte, ist: Der Westbalkan gehört zur Europäischen Union. Wir versuchen jetzt das voran zu bringen, was in den letzten Jahren, als die EU selber in einer Krise war, liegen geblieben ist. Das heißt, wir gehen über die rein vertragliche Angelegenheiten, über die Freihandelsverträge, die Assoziierungsabkommen, über die politische Stabilitätspolitik hinaus in einen Bereich, wo wir jetzt diese Anbindung an die Europäische Union voranbringen müssen.
Was sind die Schwerpunkte des Gipfels?
Das ist eindeutig die Wirtschaftsentwicklung. Die Italiener organisieren als Gastgeber ein Wirtschaftsforum mit kleinen und mittleren Unternehmen aus dem Balkan. Auch die Deutschen machen schon ähnliche Dinge. Sie haben schon eine Einkaufsinitiative gestartet, damit die deutsche Industrie Produkte aus dem Balkan einkauft. Dieser Bereich muss konkret mit Bürgschaften und Finanzinstrumenten unterfüttert werden. Der zweite Schwerpunkt sind die konkreten Maßnahmen gegen Korruption, organisierte Kriminalität und Schattenwirtschaft. Ein wichtiges Thema werden sicherlich bilaterale Konflikte in der Region sein. Und da gibt es die große Aufgabe, die Mitgliedstaaten der EU besser einzubinden. Das was jetzt im Grenzstreit zwischen Slowenien und Kroatien passiert, ist nicht ein Beispiel, dem zu folgen ist und das ist genau das, wovor man in Brüssel Angst hat. Hier sind zwei Balkanstaaten, zwei ehemalige jugoslawische Republiken in einen Streit geraten, der auch droht, andere Staaten zu blockieren. Und ein wichtiges Signal ist natürlich auch die Frage, wo der nächste Gipfel 2018 stattfinden soll. Es war ja ein Zyklus geplant von 2014 bis 2018 bis zum 100jährigen Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs. Und wie es aussieht, wird der in Großbritannien stattfinden und hier geht es dann natürlich auch um die Frage: wie wird sich Großbritannien positionieren, um den Frieden und die Friedensverträge in der Region auch weiterhin zu garantieren.
Tobias Flessenkemper leitet das Balkanprojekt des Europa-Instituts CIFE in Nizza und ist Mitglied von BiEPAG (Balkans in Europe Policy Advisory Group).
Das Gespräch führte Benjamin Pargan