Todesangst auf 21 Seiten
11. November 2004"Das Tagebuch der Anne Frank" gilt als das bekannteste Tagebuch eines KZ-Opfers. Im niederländischen Tilburg ist jetzt ein weiteres Notizbuch eines jüdischen Mädchens aufgetaucht. Die 18-jährige Helga Deen hält darin für ihren "Liebsten" Kees van den Berg ihre letzten Tage im Lager Vught (Niederlande) fest. Kees van den Bergs Sohn Conrad hat die Aufzeichnungen zu Beginn des Jahres 2004 dem Tilburger Regionalarchiv überlassen.
Helga Deen wurde 1925 in Stettin als Tochter einer deutschen Ärztin und eines niederländischen Vertreters für Färbe-Utensilien geboren. Direkt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten floh die Familie ins südniederländische Tilburg. Nach der deutschen Besetzung war die Familie von den Deportationen zunächst ausgenommen, da Helgas Vater Willy Mitglied des Judenrates war. Doch am 1. April 1943 wurde auch Familie Deen in das Arbeitslager Vught gebracht.
"Wenn mein Wille stirbt, sterbe ich auch"
"Liebster, es ist alles nicht so entsetzlich schlimm. Ich sitze in einer leeren Baracke auf dem mittleren Bett, und wenn ich aus dem Fenster gucke, sehe ich die Birken, die blaue Luft und die weißen Wolken." Mit diesen Worten beginnt die Chronik der 18-jährigen Schülerin. Auf 21 Seiten hat sie mit einem Bleistiftstummel ihre Erlebnisse und Gefühle, ihre Ohnmacht und Verzweiflung, innere Kämpfe und Sehnsüchte niedergeschrieben. Ihre Aufzeichnungen berichten von Entlausungen, Streit unter den Amsterdamer Juden und Hoffnungslosigkeit. "Ich fühle mich so allein; jeden Tag sehen wir hinter dem Stacheldrahtzaun die Freiheit." Nachdem etwa 1300 Kinder nach Auschwitz und Sobibor deportiert worden waren, notiert sie am 6. Juni 1943: "Transport. Es ist zu viel. Ich kann nicht mehr, und morgen wird es wieder passieren. Aber ich will, ich will, denn wenn mein Wille stirbt, sterbe ich auch."
"Diesmal sind wir dabei"
Nach vier Wochen im Arbeitslager Vught hoffte sie immer noch, dass sie vielleicht zu einer Arbeit bei der Glühlampenfabrik Philips angefordert würde, um so vom Abtransport ins Todeslager Solibor verschont zu bleiben. Aber dann folgte am 1. Juli der letzte Eintrag ins Tagebuch: "Packen, heute morgen ein sterbendes Kind erlebt, was mich völlig durcheinander gebracht hat. Aber alles ist nichts, verglichen mit dem Letzten. Wieder geht ein Transport ab und diesmal sind wird dabei." Am 13. Juli wurde Helga Deen ins KZ Sobidor deportiert, wo sie drei Tage später mit ihren Eltern und ihrem Bruder ermordet wurde.
Aufbewahrt "wie eine Reliquie"
Ihre Aufzeichnungen konnten mit fünf Liebesbriefen, einem Federhalter, einer Haarlocke und einer Damenbinde in einer Handtasche aus dem Lager geschmuggelt werden. Das grüne Notizbuch mit den Bleistifteintragungen hat Kees van den Berg gemeinsam mit einer Locke und einem Füllfederhalter in einer Brieftasche sein Leben lang aufbewahrt. "Die Brieftasche war für meinen Vater wie eine Reliquie. Niemand durfte sie anfassen", berichtet sein Sohn Conrad.
Eine "Tillburger Anne Frank"
Der Fund ist für das Tilburger Regionalarchiv sehr wertvoll, da authentische Zeugnisse des Lagerlebens äußerst selten sind. Radioreporter und Fernsehteams interessieren sich für Helga Deens Schicksal. Schnell war von einer "Tilburger Anne Frank" die Rede. Trotz des deutlich geringeren Umfangs ist ein Vergleich mit der im Amsterdamer Versteck schreibenden Frankfurterin Anne Frank durchaus berechtigt. Beide Mädchen geben Einblicke in die Gefühlswelt einer heranwachsenden Frau und beide machen sich keine Illusionen über die Absichten der Nationalsozialisten.
Das Tagebuch von Helga Deen soll voraussichtlich im kommenden Jahr zum 60. Jahrestag der Befreiung der Niederlande von der deutschen Besatzung veröffentlicht werden.