Tot oder lebendig: DDR-Republikflucht über Bulgarien
11. April 2019Die alte Landstraße führt quer durch das Strandzha-Gebirge: Es ist die alte Strecke von der Küstenstadt Burgas, über Malko Tarnovo, die kleine Stadt direkt an der türkischen Grenze, bis nach Istanbul. Bis 1994 war das die einzige Fernstraße im südöstlichsten Teil Bulgariens, die in das Nachbarland führte. Heute wird sie selten befahren, nur die wenigen Einwohner der umliegenden Dörfer nutzen noch diesen alten Weg.
"Zweitausend Kilometer von der DDR entfernt, das war eine der Überlegungen, wirst Du Dich gut anziehen, also westlich, dann stellen wir uns an die Straße von Burgas nach Istanbul: Türken ohne Ende, Highway, vierspurig und irgendein Türke würde dich schon mitnehmen", denkt sich damals Hendrik Voigtländer. Doch die Realität ist eine andere...
Einfach nur weg - in den Westen
Eigentlich hat Hendrik Voigtländer ein gutes Leben in der DDR: Er arbeitet als Elektroinstallateur und nutzt jede Gelegenheit, um zu reisen. Polen, Ungarn, Russland, Bulgarien - er hat schon alles gesehen. Eines Tages stellt er einen Reiseantrag bei der FDJ-Kreisleitung. Er will nach Kuba. Es dauert nicht lange, dann kommt die Absage.
Der Grund: Er habe nicht an allen FDJ-Nachmittagen teilgenommen. "Aber wenn du da hingegangen bist, dann erzählte dir der Direktor, wie schön es in Amsterdam auf dem Flughafen sei. Er darf da hin. Wir dürfen da nicht hin. Das ist schon ein komisches System. Wenn ich bei diesen Nachmittagen gefragt hätte, warum er denn dahin darf und wir nicht , dann hätten sie mich natürlich rausgeworfen. Also habe ich die Frage gelassen", erinnert sich Hendrik Voigtländer.
Es ist Anfang 1988 als ihn ein Schulfreund fragt, ob er mit ihm nach Bulgarien reisen will. Doch Bulgarien soll nicht die Endstation ihrer Reise sein. Sie wollen fliehen - über die bulgarisch-türkische Grenze in den Westen.
Bulgarien - Reiseparadies für die einen, das Tor zur Freiheit für die anderen
Lange Küstenstreifen, leckeres Essen, heiße Sommertage - vor allem der Goldstrand im Norden und der Sonnenstand im Süden Bulgariens locken damals viele Urlauber aus den ehemaligen Ostblockstaaten an. Die Zahl der DDR-Touristen steigt stetig. Sind es 1980 noch knapp 200.000 DDR-Touristen, so besuchen 1988 bereits über 300.000 das Land am Schwarzen Meer.
Hendrik Voigtländer ist einer von ihnen. In Burgas gelandet, fahren er und sein Freund in den etwa zehn Kilometer entfernten Kurort Sonnenstrand. Es ist Spätsommerwetter, warm und trocken. Sie haben viel Spaß, spielen Tennis, befreunden sich mit einer Familie aus Hamburg, gehen aus. So sorglos verbringen sie die ersten zehn Tage ihres Urlaubs.
Bis zum 3. Oktober...
Es ist ein Montag. Ein Jahr später wird die Mauer fallen, und exakt zwei Jahre später ist Deutschland wiedervereint. Doch davon wagt zu diesem Zeitpunkt, niemand zu träumen. Der Plan steht fest. An diesem Tag stehen die beiden früh auf - um 6:30 Uhr. An der Rezeption sagen sie, dass sie einen Spaziergang im Gebirge machen wollen. Sie nehmen nichts mit, jeweils nur eine Flasche Wasser, Goldkettchen um den Hals, Armbanduhr. Sie sind schick gekleidet.
"Wir liefen in Richtung Istanbul entlang der Straße, von der ich geträumt hatte. Vierspurig, Highway, Türken ohne Ende. Das Problem: Da fuhr gar kein Türke lang. Das war das ganze Gegenteil. Nach einer Stunde kommt auf der linken Seite - sehr interessant - auf der linken Seite, ein Schild. Darauf: Istanbul 350 Kilometer. Der Schulfreund war etwas übergewichtig. Ich habe ihn gefragt: 'Dicker willst du jetzt mit mir 350 Kilometer bis nach Istanbul laufen - mit einer Trinkflasche, die wir schon zur Hälfte ausgetrunken haben?' ", erinnert sich Voigtländer.
Nach drei Stunden kommt aus Richtung Burgas ein Bus. Sie entscheiden sich, den Bus anzuhalten. Auf die Frage des Fahrers, woher sie kommen würden, antwortet Voigtländer: Aus Hamburg. "Es stand ja nicht eingraviert in der Stirn ‘DDR'. Wir fahren also in Richtung Istanbul zu dritt. Ich hatte den Busfahrer zweimal gefragt, ob das hier die Straße nach Istanbul wäre. Wir haben nicht Russisch gesprochen, damit er nicht vermutet, dass wir aus der DDR kommen. Englisch sprach er nicht. Nach circa 20 Kilometern kam auf der rechten Seite ein Grenzhäuschen der bulgarischen Armee. Die winkten uns weiter. Ich strahlte schon wie ein Honigkuchenpferd. Jetzt sind es noch 330 Kilometer. Nach circa 40-50-60 Metern fuhr der Busfahrer aber rechts ran."
Stoyan Todorov hat an jenem 3. Oktober 1988 Dienst. Er fährt mit einem Jeep die Grenzzone ab. Er bekommt ein Signal und eilt zum Einsatz: 13 km von der Grenze entfernt, in der Nähe des Dorfes Balgare. Am Straßenrand stehen Hendrik Voigtländer und sein Schulfreund - DDR-Flüchtlinge. Stoyan Todorov und sein Kollege stülpen den Deutschen Säcke über den Kopf und verfrachten sie ins Auto.
Es sei seine Pflicht gewesen, so Todorov. "Denn bei jeder erfolgreichen Grenzverletzung, also Flucht, wo wir sie nicht fassen konnten, musste das komplette Team auf dem roten Teppich in Sofia Rede und Antwort stehen: Wir mussten erklären, wieso das passieren konnte. Und die Grenzsoldaten wurden sanktioniert. So war das Gesetz." Jemanden erschossen habe er nicht, "nur angeschossen". 30 Jahre lang habe er nicht über die Zeit vor 1989 gesprochen. Er ist sichtlich nervös. Seinen Namen will er nicht bekannt geben. Stoyan heißt eigentlich anders.
Schwierige Auseinandersetzung
Grenzer wie Stoyan Todorov wurden rechtlich nie belangt. Selbst als Hinterbliebene von deutschen Opfern, die an der Grenze erschossen wurden, versucht haben, ein Gerichtsverfahren in Bulgarien anzustoßen, hat die Staatsanwaltschaft nicht reagiert.
In den 60ern und 70ern Jahren ging in der DDR das Gerücht um, die bulgarische Grenze sei leicht zu überqueren. Getarnt als Touristen machten sich viele DDR-Bürger auf nach Bulgarien. Je südlicher desto größer seien die Löcher im Eisernen Vorhang, so damals die Hoffnung vieler. Einigen glückte die Flucht, doch für die meisten endete sie mit einer Freiheitsstrafe oder dem Tod, denn die bulgarische Grenze wurde strengstens bewacht.
Seit 1989 erfüllt die alte Sperranlage an der Grenze keine Funktion mehr. Ende der 1990er Jahre wurde sie endgültig zurückgebaut. Doch an schwer zugänglichen Stellen im Wald finden sich immer noch Überreste - vom Wald zurückerobert, fast unsichtbar für den unachtsamen Spaziergänger. Der hohe Grenzzaun wurde damals mit einem stillen Alarm ausgerüstet. Sobald der Zaun angefasst wurde, löste ein Signal beim nächsten Wachposten aus.
Zusätzlich gab es Kontrollstreifen auf beiden Seiten des Zauns. Dieser geharkte Ackerboden diente den Grenzsoldaten zur Spurensicherung, um unerlaubtes Betreten des Bereichs leicht zu entdecken. Sollte es einigen dennoch gelungen sein den Zaun zu überwinden, so befand man sich noch längst nicht in Freiheit. Denn diese Grenzanlage stand etwa zwei Kilometer vor der eigentlichen Grenze. Flüchtige sollten so gezielt getäuscht werden und nach der Grenzüberwindung leicht zu fassen sein.
Zusätzlich wurde ein Gebiet von sechs bis 15 Kilometern von der Grenze ins Landesinnere zur Grenzzone erklärt. Alles wurde streng bewacht: Bereits 1951 und im Sommer des darauffolgenden Jahres wurde der Befehl erlassen, die den Gebrauch der Waffe festschrieben, und zwar auch gegen Personen, die aus einem Nachbarstaat die Staatsgrenze gesetzwidrig überquerten. Und die nicht dem Befehl der Grenzeinheit Folge leisteten.
Nach dem Fall der kommunistischen Regime blieb dieses Kapitel bulgarischer Geschichte unerforscht, ungelesen, ungewollt. Die Schulbücher befassen sich nur sehr sporadisch mit der Zeit zwischen 1944-1989. Über die Folterlager der kommunistischen Partei Bulgariens wird in der Gesellschaft nicht gesprochen.
Hendrik und Stoyan - 30 Jahre danach
Nach dem Verhör in der bulgarischen Grenzstadt Malko Tarnovo landet Hendrik Voigtländer zunächst im Gefängnis in Burgas. Nach neun Tagen wird er in ein anderes Gefängnis in Sofia verlegt, wo er zwei Monate verbringt. In einer kleinen Zelle mit zwei anderen Personen, auf engstem Raum, ohne Kanalisation. Nur alle paar Tage gibt es frisches Trinkwasser.
Danach wird er in Begleitung von Stasi-Mitarbeitern in die DDR und dort in das Gefängnis in Halle überführt. Kurz vor dem Mauerfall löst ihn die Bundesrepublik aus.
Stoyan Todorv ist heute Mitte 60, ein kleiner Mann, etwa 1,60m groß, mit weißem Haar. Er ist Rentner und lebt mit seiner Frau immer noch in der kleinen Grenzstadt Malko Tarnovo. Er hat zwei Söhne: Der ältere ist ebenfalls Grenzer geworden. Er bewacht nun die neue Außengrenze der EU.