Traum vom Abrüstungs-Wettlauf in Südasien
25. November 2003Ab Mittwoch (26.11.) sollen die Waffen schweigen. Der beinahe tägliche, schon zum Ritual gewordene Artillerieschusswechsel zwischen indischen und pakistanischen Stellungen in Kaschmir soll ein Ende haben. Die Waffenruhe ist eine große Erleichterung für Tausende von Menschen, deren Häuser und Felder in der Nähe der Grenze liegen, und die sehr unter dem dauernden Beschuss leiden. Sie ist ein Sieg der Vernunft und der Menschlichkeit. Aber sie kann noch weit mehr bedeuten: Einen Triumph der Kreativität über festgefahrene Positionen.
Der Waffenstillstand in Kaschmir ist das erste größere, greifbare Resultat, nachdem das Tauwetter zwischen den beiden Atommächten Südasiens im Frühjahr begonnen hat. Bislang hatte es neben kleineren Schritten wie der Wiederbesetzung von Botschafterposten und der Wiederaufnahme der Busverbindung Delhi-Lahore auch viel Stillstand gegeben; immer wieder wurden alte Forderungen wiederholt. Besonders Indien zeigte wenig Bereitschaft, konkrete Verhandlungen aufzunehmen, solange Pakistan weiter separatistische Kämpfer - nach indischer Lesart: Terroristen - in Kaschmir unterstütze. Sturheiten auf beiden Seiten haben in der Vergangenheit immer wieder den Dialog blockiert. Die panische Angst, Schwäche zu zeigen und Zugeständnisse zu machen, hat den Streit um Kaschmir so verfahren werden lassen wie kaum einen anderen Regional-Konflikt weltweit.
Das höchste Schlachtfeld der Welt
Das beste Beispiel findet sich im äußersten Norden der umstrittenen Region, dem Siachen-Gletscher, wo die beiden Rivalen ihren Streit seit Jahrzehnten auf die absurde Spitze getrieben haben: Unter völlig unwirtlichen Bedingungen stehen sie sich auf dem höchsten Schlachtfeld der Welt gegenüber, wo es sogar mehr Tote durch Erfrierungen als durch Kämpfe gibt. Auch dort soll nun eine Waffenruhe einkehren.
Bewegung im Konflikt
Seit einem halben Jahr wird erkennbar, dass eine Art Wettlauf um neue Ideen zwischen Indien, Pakistan und den kriegsmüden Kaschmiris in Gang gekommen ist: Ob Verhandlungen zwischen den Separatisten in Kaschmir und der indischen Regierung oder die Öffnung der Grenze in Kaschmir für den Verkehr – diese Ideen müssen nicht sofort umgesetzt werden. Aber sie zeigen, dass Denkverbote fallen, dass endlich wieder Bewegung in den Konflikt kommt.
In Pakistan ist das aktuelle Waffenstillstands-Angebot an Indien durchaus nicht von allen begrüßt worden: Die eigene Regierung schwäche damit ihre Verhandlungsposition Indien gegenüber, bemängelten Islamisten. Diese Kritik ist der beste Beweis dafür, dass es sich wirklich um ein Zugeständnis Islamabads handelt. Die indische Armee hat Pakistan seit Jahren vorgeworfen, die Infiltration separatistischer Guerilla-Kämpfer ins indisch kontrollierte Kaschmir-Tal zu unterstützen. Und zwar unter anderem dadurch, dass diese Kämpfer die "Line of Control“ unter dem Feuerschutz pakistanischer Truppen passieren konnten. Indien baut zur Zeit einen Grenz-Zaun quer durch Kaschmir, um die Infiltration zu stoppen. Wenn Pakistan nun auf diese Entwicklung ausgerechnet mit einem Waffenstillstands-Angebot reagiert, ist das ein klares Friedens-Zeichen. Eine nachhaltige Stabilisierung an der "Line of Control“ haben die meisten unabhängigen internationalen Experten immer wieder als Voraussetzung für weitere Entspannung in Südasien gefordert.
Traum vom Abrüstungs-Wettlauf
Internationaler Druck, vor allem aus den USA, leistet im Hintergrund einen positiven Beitrag zu diesen Entwicklungen. Auch wenn die einzelnen Initiativen von Politikern aus der Region kommen, sind sie sich doch jederzeit bewusst, auf welches internationale Echo sie damit stoßen. Das bedeutet, dass es für beide Seiten zum Beispiel schwierig würde, den jetzt geschlossenen Waffenstillstand wieder zu beenden. Und dass, im besten Fall, eine Dynamik in Gang kommen könnte, bei der sich kleine Zugeständnisse und positive Gesten beider Seiten aneinander reihen. Ein Abrüstungs-Wettlauf in Südasien? Noch ist das nur ein Traum. Aber in diesen Tagen darf er wieder geträumt werden.