Neiman: "Die US-Demokratie ist in Gefahr!"
16. November 2020Zwei Wochen nach der Präsidentenwahl in den USA steht der demokratische Herausforderer Joe Biden zwar als Sieger da, trotzdem hat Amtsinhaber Donald Trump mehr Wählerstimmen erhalten als bei der Wahl vor vier Jahren. Der jüngste Wahlausgang wirft viele Fragen auf. Die drängendste: Wie steht es um die US-amerikanische Demokratie in der tief gespaltenen US-Gesellschaft? Ist sie fähig zum Dialog?
"Ich setze auf den amerikanischen Verfassungspatriotismus", sagt der deutsche Historiker Heinrich August Winkler. Die USA sieht er in einer tiefen gesellschaftlichen Krise, ausgelöst durch Abstiegsängste eines Teils der Bevölkerung. Selbst im Falle einer Wiederwahl wäre es Trump aber wohl nicht gelungen, die Institutionen der Demokratie zu schleifen, glaubt er. "Die Wahl hat auch gezeigt", so Winkler im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, dass "die amerikanische Demokratie lebt!"
Nach Einschätzung des US-Politologen Daniel Ziblatt, Autor des Buches "Wie Demokratien sterben" (2018), leidet die Debattenkultur in den USA unter einem "langandauernden Verfall der gegenseitigen Anerkennung". Dagegen würden nur Gesetzesänderungen helfen: "Normen sind eine Art flexibles Geländer", so Ziblatt im Gespräch mit dem Berliner Tagesspiegel, "und wenn die flexiblen Geländer nicht mehr halten, brauchen wir härtere Geländer - das heißt Gesetze, vielleicht Verfassungsänderungen, um den politischen Raum neu zu definieren."
Daniel Ziblatt lehrt in Harvard. Ab 2021 wird er "Fellow", des The New Institute in Hamburg sein, das sich mit ökologischen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen unserer Gesellschaft befasst. Ähnlichen Fragen widmet sich das Potsdamer Einstein-Forum. Direktorin Susan Neiman blickt im DW-Gespräch auf den Wahlausgang in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Deutsche Welle: Frau Prof. Neiman, ist die Präsidentschaftswahl in den USA aus Ihrer Sicht gut ausgegangen?
Susan Neimann: Nicht gut genug. Ich hätte nicht erwartet, dass 71 Millionen Amerikaner, die diese Trump-Show vier Jahre lang miterlebt haben, sich das noch einmal anschauen wollten. Diese 71 Millionen waren ein Schock. (Am 17. November lag die Zahl nach weiteren Auszählungen bei 73 Millionen, Anm. d. Red.) Auch die Lage im Kongress bleibt enorm schwierig. Beinah hätte dieser Mann, den Obama nun einen Faschisten genannt hat, noch vier weitere Jahre bekommen. Die ganze Welt hätte darunter gelitten. Somit ist es gut ausgegangen, aber nicht gut genug.
Spiegelt das Ergebnis nicht vor allem eines wider - die tiefe Zerrissenheit des Landes, das zudem von einer Pandemie gebeutelt ist?
Ja, natürlich. Der Wahlkampf war auch extrem schwierig wegen der Pandemie. Viele Demokraten, die normalerweise auf die Straße gehen und an jede Haustür klopfen, sind nicht rausgegangen. Die Republikaner dagegen haben keinerlei Hygieneregeln befolgt. Die Spaltung zwischen Demokraten und Republikanern hat sich vergrößert.
Nun stehen sich zwei Bevölkerungshälften unversöhnlich gegenüber. Was bleibt dabei auf der Strecke?
Grundlegende Reformen, fürchte ich. Es geht um mehrere Reformen. Zum Beispiel ist unser Wahlsystem, wie diese Wahl gezeigt hat, 200 Jahre zu alt. Das Electoral Collage (dt: Wahlmänner-Versammlung) gehört abgeschafft. Politiker und Juristen fordern das schon lange. Aber dafür bräuchte es eine Zweidrittel-Mehrheit im Kongress, was völlig unrealistisch ist.
Dringend nötig wären Sozialreformen, die für Europäer selbstverständlich sind, in amerikanischen Ohren aber utopisch klingen. Ich spreche noch nicht mal von der Krankenversicherung für alle. Es gibt in den USA - was viele Europäer nicht wissen - nicht mal eine Krankschreibung. Selbst in der Pandemie müssen Menschen arbeiten gehen, auch wenn sie schwer krank sind. Sie bekommen keinen Tag frei. Die Ärmsten, ob Paketzusteller oder Restaurantmitarbeiter, können sonst ihre Miete nicht bezahlen. Leider lehnen viele Amerikaner alles, was nach Reform oder Arbeiterrecht klingt, als sozialistisch ab. Dabei bräuchten wir solche Reformen dringend. Kein Industrieland der Welt steht so schlecht da wie die USA.
Die eine Hälfte der Amerikaner sieht sich abgehängt - von der Globalisierung, vom Fortschritt, von der politischen Elite des Landes. Ist sie das wirklich?
Das ist ein Mythos: Die Leute, die wir bei Trumps Rallyes (Wahlveranstaltungen, Anm.d.Red.) sahen, wirkten arm und ungebildet, meist übergewichtig und mit schlechten Zähnen - das sind tatsächlich Abgehängte. Aber die anderen Trump-Wähler haben ein gutes Einkommen, sogar eine Uni-Ausbildung. Die haben Trump gewählt, weil sie Aktien besitzen. An der Börse lief es gut unter Trump.
Die andere Hälfte des Wahlvolkes sieht in Trump die Inkarnation des Bösen und in seinen Unterstützer eine Art Wirklichkeitsverweigerer. Ist diese Perspektive richtiger?
Ja, absolut. Man mag mir vorwerfen, dass ich parteiisch bin. Aber dass Trump nicht in der Lage ist, Werte oder Normen anzuerkennen, haben wir vier Jahre lang gesehen. Am deutlichsten wurde das, als er die im Ersten Weltkrieg gefallenen US-Soldaten beleidigte. Eigentlich hätte ich gedacht, dass ihm das politisch das Genick bricht. Diese Gefallenen nun als 'Trottel und Verlierer' zu verunglimpfen, das ist in Amerika Blasphemie!
Aber das zeigt eben seine Weltsicht: Er kennt nichts als sein materielles Eigeninteresse. Er versteht nicht einmal, dass Menschen auch aus anderen Beweggründen handeln können.
Schlimmer wiegen noch seine faschistischen Methoden: Verschwörungstheorien in die Welt zu setzen, die Presse als Lügenpresse zu dämonisieren, die Justiz zu seiner privaten Rechtsberatung zu missbrauchen, jede Form der Zusammenarbeit zu verteufeln, Polizisten gegen friedlich demonstrierende Menschen einzusetzen - all das sind faschistische Methoden. Dazu kommt: Der Mann hat Nazis 'sehr anständige Leute' genannt. Wenn das nicht böse ist, weiß ich nicht, was böse sein soll.
Stirbt die Demokratie in den USA?
Ich bin Philosophin, nicht Prophetin und kann deshalb nur sagen: Die Demokratie ist in Gefahr. Hoffnung machen mir allerdings die vielen Basisbewegungen, allen voran Black Lives Matter, die größte Sozialbewegung in der Geschichte Amerikas. Danach sagen heute 75 Prozent der Amerikaner: 'Systemischer Rassismus ist ein großes Problem.' Es bewegt sich also was. Die Frage ist einfach, was wir gegen dieses undemokratische Wahlsystem unternehmen können. Und da ist einiges offen.
Die Gräben sind weiter da. Woher soll die Versöhnung kommen?
Druck von unten hat schon viel in der amerikanischen Geschichte bewegt - in der Bürgerrechtsbewegung, in der Frauenbewegung, in der LGBTQ-Bewegung. Die Frage ist, ob man diese Bewegungen zu einer nationalen Bewegung bündeln kann, die nicht nur über Identitäten sondern über Werte redet. Viele junge Menschen erkennen, wie der Neoliberalismus ihre Zukunft zerstört. Mittelfristig sehe ich also Hoffnung. Aber noch ist die Lage prekär.
In vielen Ländern grassiert der Populismus - mit den gleichen Mechanismen wie in den USA?
Nicht gleich. Schon das Wort Populismus ist extrem problematisch, weil undefinierbar. Seien wir ehrlich, in Ungarn oder in Polen, das ist blanker Rechtsradikalismus. Nationalismus oder besser: Tribalismus erscheint immer als die einfachste Lösung. Es ist immer einfacher, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen, wenn es Probleme gibt. Bloß keine Emigration, keine Fremde und so weiter. Dazu kommt die Globalisierung, die uns zu Recht das Gefühl gibt, die Demokratie funktioniert nicht richtig. Wir wissen nicht, wer an den Hebeln der Macht sitzt. Nicht die Staatsoberhäupter kontrollieren die Welt, sehr viel Macht liegt in den Händen der multinationalen Konzerne. Überall auf der Welt, ob in Singapur oder in Südamerika, gibt es die gleiche Tendenz - gegen Globalismus und für die eigenen Traditionen. Dieser Rückzug ist auch verständlich.
Ist Demokratie noch ein Zukunftsmodell?
Ja, aber nur unter einer Bedingung. Und ich weiß nicht, ob das realistisch ist - nämlich dass wir genügend Ressourcen in die Bildung stecken. Damit meine ich nicht nur Schulen und Universitäten, sondern vor allem freie öffentliche Medien. Die sind essentiell für eine Demokratie. Sonst können wir die Demokratie vergessen.
Die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman leitet seit 2000 das Einstein Forum in Potsdam, eine Stiftung öffentlichen Rechts und Ort des internationalen wissenschaftlichen Austauschs.
Mit Susan Neiman sprach Stefan Dege.