Vergessene Krise im Tschad
11. November 2014Das Flüchtlingslager Dosseye im Süden des Tschad ist riesig: Zelte aus Planen und Lehmhütten sind zu einer Kleinstadt mitten im Nichts geworden. Berthe Ilo sitzt vor ihrem Haus im Staub. Es ist nicht mehr als ein dunkles Zimmer ohne Fenster. Die 48-Jährige schläft auf dem Boden, ihr Besitz: ein paar Töpfe, ein paar Habseligkeiten - alles was sie tragen konnte, bei ihrer Flucht aus ihrem Heimatland, der Zentralafrikanischen Republik. Doch auch hier im Camp ist sie nicht sicher. Drei maskierte Männer überfielen sie in ihrer Hütte: "Sie kamen näher, fragten nach Geld. Dann stopften sie mir ein Tuch in den Mund, damit ich nicht schreie. Sie schnitten meine Kleidung auf, einer von ihnen vergewaltigte mich, während ein anderer draußen aufpasste," erzählt Berthe Ilo mit müder Stimme. Die Männer verlangten Geld, legten ihr ein Messer an den Hals. "Ich gab ihnen schließlich das, was ich in einer kleinen Kiste neben meinem Bett versteckt hatte."
Zu ihren drei Kindern hat Berthe Ilo keinen Kontakt. Sie sind irgendwo im Grenzgebiet zum Nachbarland. 150.000 Menschen sind allein im vergangenen Jahr in den Tschad geflohen. Doch das völlig verarmte Land war auf so viele Flüchtlinge nicht vorbereitet. Die deutsche Regierung etwa unterstützt über die Hilfsorganisation CARE zahlreiche Projekte. Doch eine sichere Zukunft gibt es für niemanden.
Ein Land zwischen Konfliktherden
Präsident Idriss Déby regiert den Tschad seit gut 24 Jahren mit harter Hand. Sein Land gehört zu den am wenigsten entwickelten der Welt - trotz Erdölreichtum. Die Umweltprobleme werden größer. Ein Drittel der Landfläche liegt in der Sahara, der wichtige Tschadsee trocknet aus. Das Land wird bald massive Wasserprobleme bekommen.
Schon jetzt fließt ein Viertel des Staatshaushalts in die Sicherung der Grenzen. Aus gutem Grund, wie der Leiter der UN-Mission im Tschad, der Schweizer Thomas Gurtner, erklärt: "Nach 40 Jahren internem Konflikt und Blutvergießen zwischen Brüdern erlebt der Tschad seit 2008 Frieden. Der Tschad hat das in einem Umfeld aus Krieg, Hass und Völkermord fertig gebracht."
Gemeint sind die Krisen und Konflikte in den Nachbarstaaten: Flüchtlinge kommen aus dem Sudan im Osten, aus Libyen im Norden. Die lange Grenze zu Niger im Westen gilt als unkontrollierbar, dort haben Schmuggler und die Terrorgruppe Al Kaida im Maghreb das Sagen. Aus Nigeria im Südwesten fliehen Menschen vor den Islamisten von Boko Haram, die inzwischen auch in Kamerun wüten. Dazu kommt die Gewalt zwischen verfeindeten Milizen in der Zentralafrikanischen Republik.
Gerade in diesem Konflikt ist die Rolle des Tschad nicht unumstritten, sagt Thomas Gurtner von den Vereinten Nationen: "Es gab eine Zeitlang diese Bedenken, dass Tschad eigentlich eine Zerteilung der Zentralafrikanischen Republik vorschwebt, dass der Norden vielleicht von Tschad annektiert werden würde." Das sei jedoch nicht der Fall. Tschad habe sich sehr stark international engagiert, dass die territoriale Integrität Zentralafrikanische Republik gewahrt bleibt. "Der Tschad versucht eigentlich heute sehr aktiv, auf dem internationalen diplomatischen Parkett langfristige Lösungen zu finden," sagt Gurtner.
Auf der Suche nach Perspektiven
Die Flüchtlinge, die in den Tschad kommen, sind keine komplett Fremden. Die meisten Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik haben tschadische Wurzeln, werden deshalb auch "Rückkehrer" genannt. Die 17-jährige Awa Mamua zum Beispiel. Ihre gesamte Familie wurde in Bangui getötet. Ganz allein kam sie mit einem tschadischen Konvoi ins Camp Danamadja, in dem auch die Organisation CARE zu helfen versucht. "Früher ging es mir gut - mit meinem Vater, meiner Mutter und meinen Geschwistern. Jetzt sind sie alle verschwunden - wegen des Krieges," sagt sie.
Awa Mamua kocht hier für eine Gruppe von Jugendlichen, betreut sie, ist Ansprechpartnerin. Zurück will sie nicht mehr. Ihr Leben in Bangui sei vernichtet, niemand sei mehr dort. Awa möchte im Tschad bleiben, einen Schulabschluss machen und dann eine Ausbildung zur Krankenschwester. Denn sie helfe gerne, sagt sie mit einem Lächeln.
Wie andere Hilfsorganisationen, wird CARE demnächst einige Projekte im Land verkleinern oder ganz einstellen müssen - weil das nötige Geld fehle, heißt es. Davon betroffen sind auch die Flüchtlingslager in Dosseye und Danamadja. Und das, obwohl die Krise im Tschad noch lange nicht vorbei ist. Für den Leiter der UN-Mission im Tschad, Thomas Gurtner, ist das schwer zu verstehen: "Der Tschad ist heute eine Garantie für Sicherheit und Stabilität im Sahel und dadurch auch eine Garantie für Sicherheit und Stabilität in Europa. Wir wissen von der Gefahr der Terrorgruppe Al Kaida im Maghreb, wie das leicht überschwappen kann. Wir sind nicht so weit weg von Europa."
Aber andere Krisenherde in der Welt sind spektakulärer. Der Tschad könnte zu einer vergessenen Krise werden.