Tschechien weist Kritik an Grenzpendlern zurück
21. Januar 2021Während die anlaufenden Impfprogramme Hoffnung auf eine absehbare Rückkehr zu mehr Normalität machen, sucht man in Deutschland nach den Ursachen für die hohen Infektionszahlen in den deutschen Regionen, die an die Tschechische Republik grenzen.
In der Tageszeitung Welt wurden die Tschechen als "gefährliche Nachbarn" gebrandmarkt, über die deutsche Politiker nicht reden wollen. "Stoppt die Corona-Touristen!", forderte das Boulevardblatt Bild und warnte vor Tschechen, die zum Einkaufen "unkontrolliert über die Grenze" fahren.
Daten des Robert-Koch-Instituts zeigten am 19. Januar, dass die überwiegend ländlich geprägten Landkreise in Sachsen an der tschechischen Grenze mit rund 300 Infektionen pro 100.000 Einwohner zu den Regionen mit den höchsten Infektionsraten in Deutschland gehören. Am Tag zuvor lag die so genannte 7-Tage-Inzidenz in Tschechien bei über 828.
Bis vor kurzem stand es allen Tschechen frei, die Grenze nach Belieben zu überqueren, etwa zum Einkaufen, wenn sie einen negativen Coronavirus-Test vorweisen konnten. Sachsen hat dem zwar Anfang Dezember einen Riegel vorgeschoben, aber Tausende von Pendlern, die in Krankenhäusern, im Dienstleistungssektor und den Fabriken des Bundeslandes beschäftigt sind, waren davon ausgenommen. Kein Wunder also, dass deutsche Medien und Politiker, die nach einfachen Antworten in der Pandemie suchen, eins und eins zusammenzählen.
Je mehr Deutschland mit der Pandemie zu kämpfen hat, desto mehr Menschen blicken auf die tiefrot eingefärbten Landkreise mit besonders hohen Infektionszahlen in den Grenzregionen zu Tschechien. Am 13. Januar hat die Bundesregierung eine neue Verordnung verabschiedet, die einen negativen Test von Menschen verlangt, die aus Hochrisiko-Regionen einreisen.
Aber auch Landkreise, die nicht an der Grenze liegen, leiden unter hohen Infektionszahlen. Die höchste Infektionsrate in Deutschland hatte am 19. Januar der Landkreis Hildburghausen in Thüringen. Er liegt 220 km westlich der sächsischen Landeshauptstadt Dresden und 100 km von der tschechischen Grenze entfernt.
Zuzana Stichova, Sprecherin des tschechischen Außenministeriums, kann die deutschen Bedenken nachvollziehen. Allerdings betont sie, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Tschechen für die hohen Infektionszahlen in deutschen Nachbarregionen verantwortlich sind.
"Sachsen ist einer der am stärksten betroffenen Teile Deutschlands. Auch die benachbarten Regionen auf der tschechischen Seite der Grenze haben mit einer großen Zahl von Infektionen zu kämpfen", räumt sie ein. "Man kann aber sicher nicht sagen, dass tschechische Pendler für die hohen Infektionsraten in Sachsen verantwortlich sind. Im Gegenteil, sie arbeiten oft als Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter in Deutschland und helfen so, die Situation zu bewältigen."
"Überschwappende Welle"
Statt die Ursachen für hohe Infektionszahlen im Ausland und bei Grenzpendlern zu suchen, geht eine andere Theorie davon aus, das hohe Infektionsgeschehen habe mit der in Sachsen weit verbreiteten Unterstützung für die Alternative für Deutschland (AfD) und rechtspopulistische Strömungen zu tun. Proteste solcher Gruppen gegen die Corona-Beschränkungen waren in Sachsen weit verbreitet und Masken seien nur von einer Minderheit getragen wurden, so der Erklärungsversuch.
"Es ist kein Zufall, dass die Regionen, in denen die AfD besonders starken Rückhalt genießt, am stärksten von dem Virus betroffen sind, während die Stadt Leipzig, in der die AfD vergleichsweise schlecht abschneidet, eine Infektionsrate von etwa einem Drittel des Landesdurchschnitts aufweist", behauptet Klaus Neumann von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Forschung und Kultur.
Aber vor die Wahl gestellt, ob man die Schuld für die hohen Infektions-Zahlen bei Ausländern oder den eigenen Wählern sucht, zeigen manche Politiker in Orten wie Bautzen - dem Schauplatz von Zusammenstößen zwischen Einheimischen und Asylbewerbern im Jahr 2016 - mit dem Finger nach Tschechien.
Der sozialdemokratische Bürgermeister Alexander Ahrens sagte gegenüber der DW im Dezember, dass es "lächerlich" und "absurd" sei zu behaupten, "dass eine Pandemie mit politischen Trends zusammenhängt."
Er sieht die Ursache für die hohen Infektionszahlen in Tschechien und fordert die weitgehende Schließung der Grenze. "Das war in den Grenzregionen zu erwarten", sagt er. "Wir haben schon vor Monaten gesagt, wenn die Grenzen zu Tschechien nicht geschlossen werden, dann schwappt die Welle über."
Einzelne deutsche Medien behaupten, dass bis zu 20.000 Tschechen täglich zum Arbeiten in Ahrens' Landkreis Bautzen mit seinen rund 300.000 Einwohnern pendeln. Laut Bundesagentur für Arbeit arbeiten in ganz Sachsen jedoch nur gut 11.000 Tschechen, dazu kommen 20.000 Polen.
"Es gibt keine Belege dafür, dass Pendler für den Anstieg der Neuinfektionen verantwortlich sind. Es gibt überhaupt keine Zahlen, keine Hinweise auf Ausbrüche in Betrieben", sagt Markus Schlimbach, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Sachsen. "Es ist reiner Populismus, diesen Zusammenhang herzustellen. Es ist offensichtlich einfacher, anderen die Schuld zu geben als sich selbst."
Martin Volf, Sprecher der Regierung der tschechischen Region Usti, die jenseits der Grenze zu Sachsen liegt, hütet sich vor "politischen Kommentaren", sagt aber, dass nur 0,5 bis 1 Prozent der lokal Infizierten Grenzgänger sind.
Er weist darauf hin, dass Tschechen zwar nicht mehr in Deutschland einkaufen gehen können, es aber keine Einschränkungen für Deutsche gebe, die nach Tschechien reisen. Sie überquerten weiterhin die Grenze, nicht nur um zu arbeiten, sondern auch um billiges Benzin zu tanken.
Auf tschechische Pendler angewiesen
Michael Kretschmer sieht nicht die tschechischen Pendler als Hauptproblem. Gegenüber dem Spiegel sagte der sächsische Ministerpräsident, vor allem die eigene Bevölkerung ignoriere die Sicherheitsmaßnahmen. Er werde sich weiterhin den Forderungen nach einer Grenzschließung widersetzen.
"Ohne die tschechischen und polnischen Ärzte und Krankenschwestern, ohne die osteuropäischen DHL-Mitarbeiter würde die medizinische Versorgung, die Betreuung in Pflegeheimen und anderen Wirtschaftsbereichen zusammenbrechen", sagte Kretschmer im Dezember.
Nach den neuen Regeln, die am 18. Januar eingeführt wurden, müssen Pendler nun einen negativen Coronavirus-Test pro Woche vorlegen. Am darauffolgenden Tag sagte der tschechische Premierminister Andrej Babis, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am 19. Januar verschärfte Anti-Corona-Maßnahmen angekündigt hatte, in einem Telefongespräch zugestimmt habe, die Grenzen nicht abzuschotten. Allerdings müssen Pendler wahrscheinlich bald zwei Tests pro Woche vorlegen.
Frantisek Navrkal, Abgeordneter des tschechischen Parlaments für die Region Usti von der oppositionellen Piratenpartei, hält die verschärften Beschränkungen für vernünftig, da "die tschechische Regierung beim Umgang mit der Pandemie so versagt hat". Er hofft auch, dass die Test-Auflagen endlich konkrete Daten darüber liefern könnten, ob Tschechen das Virus nach Deutschland tragen oder nicht.
Er zeigt sich aber auch besorgt um die Menschen, die für ihren Lebensunterhalt auf das Pendeln angewiesen sind. Besonders für den Fall, dass die Beschränkungen verschärft würden und die Gefahr einer Grenzschließung steigt.
Die Arbeitgeber in Sachsen scheinen vorerst unbesorgt zu sein. Die Arbeitsagenturen werben weiterhin um tschechische Pflegekräfte, Fahrer und Lagerarbeiter, um freie Stellen zu besetzen. Doch Markus Schlimbach erinnert daran, dass die tschechische Regierung während der ersten Corona-Welle im Frühjahr die Grenze für deutsche Pendler geschlossen hatte. Der DGB-Vertreter befürchtet, dass die verschärften Restriktionen neue Unsicherheiten mit sich bringen und glaubt, dass die regionale Zusammenarbeit bereits nachhaltig geschädigt wurde.
"Arbeitgeber werden es sich jetzt sicher zweimal überlegen, ob sie Grenzgänger einstellen", sagt er. "Nicht, weil sie Covid-19 verbreiten, sondern wegen der Probleme an den Grenzen. Wir befürchten, dass das Vertrauen in den grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt nachhaltig beschädigt wurde."
Adaption aus dem Englischen: Thomas Kohlmann