Ein-Mann-Herrschaft oder Demokratie?
23. Juni 2018Am Sonntag stimmt die Bevölkerung der Türkei darüber ab, welche Zukunft sie für ihr Land will. Das Ergebnis der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wird auch über die Zukunft von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan entscheiden. Aus dem Mann, der sein Land zu einer wirtschaftlich starken Regionalmacht mit dem EU-Beitritt als Ziel machte, ist in den vergangenen Jahren ein autoritär herrschender Politiker geworden.
Die türkische Gesellschaft, die aus vielen ethnischen Gruppierungen und Glaubensgemeinschaften besteht, ist in zwei Lager gespalten: Erdogan-Befürworter und die, die ihn kritisieren. Rund 60 Millionen Wahlberechtigte sind in der Türkei registriert. Jüngste Umfragen ergaben, dass fast die Hälfte der Wähler für den seit 16 Jahren regierenden Erdogan und seine islamisch-konservative Partei AKP stimmen könnten. Die anderen 50 Prozent unterstützen eine der anderen Parteien und wollen, dass die Herrschaft Erdogans endet. Wie wird sich am Sonntag dieses Patt auflösen?
Erdogan will das Ende der Gewaltenteilung
In den vergangenen zehn Jahren ist es Erdogan gelungen, alle potenziellen Konkurrenten loszuwerden. Dadurch hat der Gründer und Vorsitzende der AKP seine Machtposition weiter gestärkt. Sein Ziel bei diesen Wahlen ist es nun, auch die Macht über die Legislative, Judikative und Exekutive zu bekommen.
Der Staatschef will ein Präsidialsystem einführen. Der dafür notwendigen Verfassungsreform haben die Türken im April 2017 in einem Referendum zugestimmt, sie soll mit den Wahlen am Sonntag in Kraft treten. Das Präsidialsystem überträgt die Befugnis, die Regierung zu bilden und zu leiten, vom Parlament an den Staatspräsidenten. Ihm unterstehen der Geheimdienst und das Militär. Auch alle Minister bestimmt der Präsident.
Tarhan Erdem ist Gründer von KONDA, einem bekannten Meinungsforschungsinstitut in der Türkei. Er bekräftigt: "Die Wahlen werden das Schicksal der Türkei entscheiden." Das neue Ein-Mann-Regierungssystem existiere faktisch bereits seit vier Jahren. Das Wahlergebnis lege die juristische Grundlage des neuen Regierungssystems, sagte Erdem.
Aufstieg der Opposition in der Türkei
Erdogan, der in den vergangenen 16 Jahren keine Wahl verloren hat, sieht sich allerdings zum ersten Mal mit einer großen Hürde konfrontiert. Während er mit der ultranationalistischen Partei MHP die sogenannte Volksallianz eingegangen ist, haben sich auch die Oppositionsparteien zu einem nie dagewesenen Bündnis zusammengefunden: Die sogenannte Nationale Allianz besteht aus der laizistischen und kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), der islamistischen Partei der Glückseligkeit (SP) und der Guten Partei (IYI Parti).
Vor allem die unerwartete Begeisterung vieler Türken für Präsidenschaftskandidat Muharrem Ince (CHP) gibt Erdogan-Gegnern Hoffnung, dass der Präsident es nicht leicht haben wird. Ince trat im ersten Wahlkampfmonat mehr als 70 Mal öffentlich auf - Massenveranstaltungen mit hunderttausenden Menschen kennen die Türken sonst nur vom Amtsinhaber. Im Gegensatz zu Erdogan hat Ince angekündigt, das Präsidialsystem abzuschaffen, den nach dem Putsch im Juli 2016 verhängten Ausnahmezustand zu beenden und nicht in dem Präsidentenpalast zu wohnen, den Erdogan mit über 1150 Zimmern errichten ließ. Dem deutschen Boulevardblatt "Bild" sagte Ince, er wolle auch das Verhältnis zu Deutschland verbessern.
Eine Schlüsselrolle bei den Wahlen kommt der sozialistischen und pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) zu. Die regierende AKP betrachtet sie als den politischen Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die jahrelang gegen den türkischen Staat einen bewaffneten Kampf geführt hat. Tausende HDP-Mitglieder wurden in den vergangenen Jahren hinter Gitter gesteckt.
Selahattin Demirtas, Präsidentschaftskandidat der HDP, führt seinen Wahlkampf vom Gefängnis aus. Er begeistert nicht nur die Kurden, sondern auch die türkischen Linken. Gelingt es der HDP, ins Parlament zu kommen, könnte sie sich längerfristig ihren Platz in der türkischen Politik sichern.
Dazu muss sie allerdings die Zehn-Prozent-Hürde überwinden. Die gilt für einzelne Parteien wie die HDP ebenso wie für Bündnisse wie die Nationale Allianz - in dem Fall werden die Stimmen aller Parteien addiert und diese ziehen sämtlich ins Parlament ein, wenn sie die Hürde überschreiten.
Bei den vergangenen zwei Wahlen ist das der HDP auch allein gelungen. Wenn sie es erneut schafft - worauf Umfragen derzeit hindeuten -, dann könnte das AKP-Bündnis seine absolute Mehrheit im Parlament verlieren. Doch das Ergebnis könnte auch anders ausfallen, und das beunruhigt die Opposition. Denn sollte die HDP nicht ins Parlament einziehen, werden viele ihrer Mandate an die AKP gehen. Die hätte dann eine überwältigende Mehrheit.
Entscheidend ist auch, ob die türkische Regierung die HDP wieder als legitime Partei anerkennt, sagt Professor Mesut Yegen, Soziologe an der Istanbul Sehir-Universität.
"Die Türkei wird jetzt darüber entscheiden, ob das autoritäre Regime bestehen bleibt", setzt Yegen hinzu. "Auf diesem Weg ist unser Land bereits seit einigen Jahren. Aber die Wahlen am Sonntag sind eine gute Gelegenheit, diesen Pfad zu verlassen."