Türkische Diplomaten verweigern Heimkehr
11. August 2016Es ist der Unterschied zwischen "de jure" und "de facto": Rein rechtlich haben Diplomaten sich dem Willen ihres Dienstherrn zu beugen. Doch in der Realität sind dem Heimatland erst einmal die Hände gebunden, wenn ihm ein Gesandter abtrünnig wird.
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu drohte mehreren seiner Emissäre mit rechtlichen Schritten - die jedoch ohnehin auf die Flüchtigen warten. Denn zuhause sollten sie sich den Ermittlungen der Behörden stellen. Eine Frist, bis zu deren Ablauf die Diplomaten in die Türkei zurückkehren sollten, ist verstrichen. Stattdessen suchten sie Asyl im Ausland.
Bangladesch - New York - Griechenland - Italien
Cavusoglu sagte dem Fernsehsender NTV, zwei türkische Staatsbedienstete in Bangladesch seien nach New York geflohen. Zudem hätten sich zwei in Griechenland stationierte Militärattachés nach Italien abgesetzt. Die türkischen Behörden würden nun Italien um ihre Auslieferung ersuchen.
Eine genaue Zahl der flüchtigen Diplomaten nannte der Außenminister allerdings nicht. Womöglich lässt sie sich noch gar nicht bestimmen - die Ereignisse sind im Fluss. So warte Ankara etwa auf eine Antwort der USA im Falle eines türkischen Offiziers. Der war zu einer NATO-Einrichtung in die Vereinigten Staaten entsandt worden und bat dort um Asyl.
35.000 Festnahmen
Die gesuchten Diplomaten sind freilich nur die Spitze des Eisbergs. Nach dem gescheiterten Militärputsch gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan nahmen die Behörden auf heimischem Boden bisher rund 35.000 Menschen fest - so die jüngsten offiziellen Zahlen. Mehr als 11.000 von ihnen wurden wieder freigelassen. Gegen rund 18.000 wurde ein Haftbefehl erlassen; fast 6.000 warten in Polizeigewahrsam noch auf einen Beschluss des Haftrichters.
Nach einem Dekret des Präsidenten können Festgenommene während des Ausnahmezustands bis zu 30 Tage in Gewahrsam gehalten werden, bis sie einem Richter vorgeführt werden müssen - zuvor waren es lediglich vier Tage. Den Verdächtigen wird vorgeworfen, Anhänger des Predigers Fetullah Gülen zu sein, den Erdogan für den Drahtzieher des Umsturzversuchs vom 15. Juli hält. Der Präsident drängt die USA weiter zu einer Auslieferung Gülens, der dort im Exil lebt. "Früher oder später werden die Vereinigten Staaten eine Entscheidung treffen: Entweder die Türkei oder Fetö", so Erdogan. Fetö ist die türkische Abkürzung für die in der Türkei als Terrorgruppe eingestufte Gülen-Bewegung.
Ermittlungen gegen Ermittler
Zur Fahndung ausgeschrieben sind nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu auch fast 650 Richter und Staatsanwälte. Gegen sie werde wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt.
Alle Betroffenen gehörten zum Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK), der auch für Personalfragen bei der Justiz zuständig ist. Im Zuge weitreichender "Säuberungen" wurden zudem zehntausende Angehörige von Militär, Justiz, Verwaltung und Bildungswesen ihrer Ämter enthoben.
Anti-Terror-Einheit gegen Kurdenpartei HDP
Unabhängig von den Razzien, die mit dem Putschversuch begründet werden, geht die Regierung weiter mit aller Härte gegen mutmaßliche kurdische Extremisten vor. In Istanbul durchkämmten Anti-Terror-Einheiten auch Büroräume der prokurdischen Oppositionspartei HDP. Insgesamt 17 Verdächtige seien festgenommen worden, meldet Anadolu. Die HDP erklärte, die Einsatzkräfte hätten die Tür ihres Gebäudes aufgebrochen und die Büros widerrechtlich durchsucht. Parteivertreter hätten sich zu diesem Zeitpunkt nicht dort aufgehalten.
jj/uh (dpa, afp, rtr)