Aktuell: Totalausfall russischer Gaslieferungen befürchtet
2. Juli 2022Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der Sanktionen des Westens gegen Moskau fürchtet die Bundesnetzagentur einen Totalausfall der Gaslieferungen aus Russland. Die Frage sei, ob aus der bevorstehenden regulären Wartung der Gaspipeline Nord Stream 1 eine "länger andauernde politische Wartung" werde, sagte Netzagentur-Chef Klaus Müller den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Falls der Gasfluss aus Russland "politisch motiviert länger anhaltend abgesenkt wird, müssen wir ernsthafter über Einsparungen reden".
Die zwölf Wochen bis zum Beginn der Heizsaison müssten genutzt werden, um Vorbereitungen zu treffen, mahnte Müller. Er appellierte an alle Haus- und Wohnungsbesitzer, ihre Gasbrennwertkessel und Heizkörper rasch zu überprüfen und effizient einstellen zu lassen. Dies könne den Gasverbrauch um zehn bis 15 Prozent senken, sagte der Behördenchef. "Das muss jetzt passieren und nicht erst im Herbst."
"Deutschland steht nicht vor einer Stromlücke"
Zugleich warnte Müller vor falschen Akzenten beim Energiesparen. "Die Krisensituation bezieht sich auf Gas - und nicht auf Strom", sagte er. Deutschland stehe nicht vor einer Stromlücke. "Wir haben auch keine Mangellage bei Benzin und Öl. Das ist alles verfügbar. Ich werbe dafür, den Blick auf Gas zu fokussieren." Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hatte vor gut einer Woche wegen der gedrosselten russischen Lieferungen die zweite Krisenstufe im Notfallplan Gas, die sogenannte Alarmstufe, ausgerufen.
Der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) warnte davor, die drastischen Preisanstiege bei Gas unmittelbar an Privatkunden weiterzugeben, und verlangte Gesetzesänderungen. "Die Preissteigerungen sind für viele Menschen kaum noch zu schultern", sagte der Leiter des Teams Energie und Bauen beim vzbv, Thomas Engelke, der Zeitung "Rheinische Post".
Lukaschenko wirft Kiew Raketenangriffe auf Belarus vor
Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat der Ukraine Raketenangriffe auf sein Land vorgeworfen. "Vor rund drei Tagen wurde von der Ukraine aus versucht, militärische Ziele in Belarus anzugreifen", sagte Lukaschenko laut der staatlichen Nachrichtenagentur Belta. Sämtliche Raketen seien abgefangen worden, fügte er demnach hinzu.
Zu Beginn der Offensive Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar diente Belarus als Basis für die russischen Streitkräfte. Diese versuchten von dort aus die Hauptstadt Kiew einzunehmen, bevor sie sich Ende März wegen des ukrainischen Widerstands zurückzogen. Wegen massiver westlicher Sanktionen ist die Regierung in Minsk militärisch und wirtschaftlich stark von Russland abhängig. Vergangene Woche sicherte Kremlchef Wladimir Putin Lukaschenko die Lieferung von atomwaffenfähigen Raketensystemen "in den kommenden Monaten" zu.
Russische Artillerie feuert an Frontlinie
Unterdessen dauern die Kämpfe im Kriegsgebiet unvermindert an. Im Osten und Süden der Ukraine wurden Stellungen entlang der Frontlinie von russischen Truppen mit Artillerie beschossen. Im Bericht des ukrainischen Generalstabs werden Dutzende Orte in den Gebieten Charkiw, Donezk, Luhansk, Saporischschja, Mykolajiw und Cherson genannt. Vereinzelt seien auch Angriffe von Flugzeugen und Hubschraubern geflogen worden, hieß es. Ukrainische Einheiten hätten einen russischen Angriff bei einem Gelatine-Werk bei der Industriestadt Lyssytschansk im Gebiet Luhansk abgewehrt.
Aus der südukrainischen Stadt Mykolajiw werden Detonationen gemeldet. "Es gibt starke Explosionen in der Stadt! Bleibt in den Schutzräumen!", schrieb Bürgermeister Oleksandr Senkewitsch auf Telegram. Berichte über mögliche Opfer gibt es bislang nicht.
Mehrere Tote in Slowjansk
Bei Raketenangriffen auf die Stadt Slowjansk im Osten des Landes sind mindestens vier Menschen getötet worden. Nach ukrainischen Angaben kam dabei Streumunition zum Einsatz. Es seien zivile Bereiche getroffen worden, in denen es keine Militäranlagen gebe, erklärte Bürgermeister Wadym Ljach auf Telegram. Als Streumunition werden Raketen und Bomben bezeichnet, die in der Luft über dem Ziel bersten und viele kleine Sprengkörper freisetzen. Ihr Einsatz ist völkerrechtlich geächtet.
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erhob schwere Vorwürfe gegen Russland. Den Raketenangriff auf ein Wohnhaus im südukrainischen Gebiet Odessa bezeichnete er als "gezielten russischen Terror". In dem Gebäude hätten "gewöhnliche Menschen" gelebt, weder Waffen noch militärische Ausrüstung seien darin versteckt gewesen, sagte Selenskyj in seiner jüngsten Videobotschaft. Nach Angaben des Staatschefs waren bei dem Angriff in der Nacht zum Freitag mindestens 21 Menschen getötet worden.
Der Oberkommandierende des ukrainischen Militärs, Walerij Saluschnyj, beschuldigte die russische Armee, sie habe die strategisch wichtige Schlangeninsel im Schwarzen Meer mit Phosphorbomben angegriffen. Er präsentierte dazu eine Videoaufnahme, welche die Bombardierung belegen soll. Phosphorwaffen können schwerste Verbrennungen und Vergiftungen verursachen. Erst am Donnerstag war die russische Armee von der Insel abgezogen, die sie zuvor vier Monate lang besetzt gehalten hatte. Moskau sprach von einer "Geste guten Willens", die Ukraine dagegen von einem wichtigen militärischen Sieg ihrer Truppen.
Staatsministerin Roth hält Boykott russischer Kultur für falsch
Trotz des russischen Angriffs auf die Ukraine plädiert Kulturstaatsministerin Claudia Roth für einen offenen Umgang mit russischer Kultur. "Es gibt eine große Verunsicherung, wie mit russischer Kultur umzugehen ist", sagte die Grünen-Politikerin der "Augsburger Allgemeinen". "Ich glaube, dass ein Boykott völlig falsch ist, denn es sind ja oft die russischen Künstler und Künstlerinnen, die versuchen, die letzten Freiräume aufrecht zu erhalten."
Zudem gebe es "so großartige russische Kultur, sei es Musik, sei es Literatur", betonte Roth. "Ich lass mir doch den Tschechow nicht von Putin wegnehmen." Es sei "gnadenlos unterschätzt" worden, "was für ein Gift" Propaganda und Desinformation seien, fügte die Staatsministerin hinzu. "Sie schafft diese Verunsicherung, dass sich niemand mehr eine Meinung bilden kann, weil niemand mehr weiß, wem zu vertrauen ist. Das ist Gift für eine Demokratie." Roth verwies auf den russisch-deutschen Autor Wladimir Kaminer, der Propaganda als eine der gefährlichsten Waffen überhaupt bezeichnet habe. "Umso mehr sollten wir uns bewusst sein, was unsere Demokratie reich macht", mahnte sie.
Waffenhilfe aus Washington
Die Vereinigten Staaten haben der Ukraine weitere Militärlieferungen zugesagt. Mit einem Paket im Wert von 820 Millionen US-Dollar (etwa 787 Millionen Euro) sollen unter anderem weitere Munition für das HIMARS-Raketenwerfersystem, zwei Boden-Luft-Raketenabwehrsysteme vom Typ NASAMS, Artilleriemunition und Radare zur Artillerieabwehr bereitgestellt werden, wie das Pentagon mitteilte.
Seit Beginn der russischen Invasion hat Washington der Ukraine nach eigenen Angaben Waffen und Ausrüstung im Wert von fast sieben Milliarden US-Dollar (6,73 Milliarden Euro) zugesagt oder bereits geliefert.
London protestiert gegen Behandlung Kriegsgefangener
Großbritannien hat nach Berichten über die Gefangennahme zweier weiterer Briten im Osten der Ukraine Protest in Moskau eingelegt. "Wir verurteilen die Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Zivilisten für politische Zwecke", erklärte das Außenministerium in London auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Man stehe in ständigem Kontakt mit der ukrainischen Regierung im Bemühen, die Menschen freizubekommen. Konkreter wollte sich das Ministerium nicht äußern.
Zuvor hatte die russische Staatsagentur TASS unter Berufung auf prorussische Separatisten gemeldet, zwei Briten seien wegen "Söldneraktivitäten" angeklagt worden. Dabei soll es sich um einen 22-Jährigen handeln, der in der selbsternannten "Volksrepublik Donezk" humanitäre Hilfe leisten wollte, und um einen Freiwilligen, der sich der ukrainischen Armee angeschlossen hat. Wegen desselben Vorwurfs waren bereits zwei Briten und ein Marokkaner, die für die ukrainischen Streitkräfte gekämpft hatten, in dem Separatistengebiet zum Tode verurteilt worden. Sie haben Berufung eingelegt.
jj/haz (dpa, afp, rtr, ap)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.