Ukraine: Auf der Flucht mit Demenz
4. April 2022Während Millionen Menschen vor dem Krieg aus der Ukraine flüchten, musste Erika Haltschij erst einmal bleiben. Sie ist 80 Jahre alt und dement. Sie vergisst, wo sie ist und was sie tut. Selbst ihre eigene Tochter erkennt sie nicht mehr wieder. Ein Zustand, unter dem eine Flucht mit mehrtägiger Wartezeit an der Grenze ein großes Risiko ist.
Erikas Tochter Lesja wohnt derweil bereits in Deutschland und sorgt sich um die Mutter. Seit 1945 lebt die alte Frau in der Stadt Kalusch in der Westukraine, erzählt Lesja der DW. Sie hatte deutsche Vorfahren, wurde in Frankfurt an der Oder geboren und ist nach dem Zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion verschleppt worden. Seit der Wiedervereinigung wollte sie oft nach Deutschland zurückkehren. Ihre Tochter will sie immer wieder dabei unterstützen. Doch die Behörden stellen sich quer. Als Russland Ende Februar die Ukraine angreift, sind die beiden verzweifelt.
Die prekäre Situation alter Menschen in der Ukraine
So wie Erika Haltschij ergeht es in diesen Tagen vielen alten Menschen in der Ukraine. Seit dem Angriff Russlands wurden sie zurückgelassen, waren hilflos und schutzlos. Wie viele Menschen genau davon betroffen sind, ist unklar.
Im Jahr 2020 waren rund 16 Prozent der ukrainischen Einwohner älter als 65 Jahre. Auf die Bevölkerungszahl von 44 Millionen Ukrainern umgerechnet, ergibt das eine Zahl von mehr als sieben Millionen alten Menschen. An der Grenze rund um die ukrainische Ortschaft Tschernowitz kommen laut der notärztlichen Hilfsorganisation Cap Anamur aber hauptsächlich jüngere Frauen mit Kindern an. Alte Menschen seien nur wenige dabei, sagt Cap Anamur-Geschäftsführer Bernd Göken.
"In den Jahren, in denen wir in der Ostukraine verschiedene kleine Projekte unterstützt haben, wurden durch unser Team auch viele alte Menschen versorgt, die teilweise unter sehr schlechten Bedingungen lebten", schreibt er der DW. Wie die Lage für diese Menschen derzeit sei, könne er aber nicht einschätzen.
Riskante Rettung
Nach drei Wochen des vergeblichen Versuchens und des Bangens, schafft Erikas Tochter Lesja es schließlich doch Anfang März, die 80-Jährige aus der Ukraine herauszuholen.
Die Rettungsaktion ist nervenaufreibend. Lesja fährt an einem Tag mit ihrem Sohn an die polnisch-ukrainische Grenze. Sie muss die Grenze überqueren. In der Ukraine hat sie sich mit der Pflegerin ihrer Mutter verabredet.
"Es ist unglaublich schwer, den Durchblick zu behalten", beschreibt Erikas Tochter Lesja die Situation in der ukrainischen Grenzregion. "Alle weinen, alle sind verzweifelt, überall stehen Soldaten mit Kalaschnikows. Und du fährst an denen vorbei und weißt nicht, ob du überhaupt wieder aus dem Land herauskommst", erzählt sie.
Am Treffpunkt angekommen, steigt Erika schließlich in das Auto ihrer Tochter. Die alte Frau hat Beinschmerzen vom langen Sitzen. Der Rettungstrupp muss sich trotzdem in den langen Autokorso am Grenzübergang einreihen. Von den Soldaten kommt keine Hilfe, erzählt Lesja. Letztlich sind es die anderen Flüchtenden, die Erika wegen ihres instabilen Zustandes vorlassen.
Auf Hilfe angewiesen
In der Ukraine sind die Alten häufig auf sich allein gestellt. Richtige Pflegeheime gäbe es kaum und seien teuer, sagt Lesja. In den großen Städten wie Kiew versuchen Freiwillige, die Not etwas zu lindern und die alten Menschen zu versorgen. Auch die Kirche ist für Alte und Schwache ein erster Anlaufpunkt, so zum Beispiel auch das orthodoxe St. Michaelskloster in Odessa. Die christliche Einrichtung ist eine Anlaufstelle für viele alte Menschen gewesen, die sonst nirgendwo hingekonnt hätten, wie die französische Nachrichtenagentur AFP Anfang März berichtete. Viele seien von Angehörigen dort abgegeben worden.
Wie ernst die Lage trotz dieser Hilfestellung noch immer ist, zeigt auch die Ansprache des Großerzbischof der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche von Kiew-Halytsch Swjatoslaw Schewtschuk: "Ich denke an die vielen von ihnen, die heute im Stich gelassen werden, auf sich selbst gestellt sind, allein gelassen in kalten Wohnungen, die am meisten von den russischen Bomben betroffen sind." Die meisten alten Menschen kämen lediglich zu den Kirchen, um ein Stück Brot zu bekommen. Er rief alle Menschen dazu auf, an die Alten in der Ukraine zu denken und für sie zu beten.
Erika Haltschij ist inzwischen in Deutschland angekommen. Sie wohnt in der Wohnung ihrer Tochter Lesja in Frankfurt (Oder). Aufgrund der Demenz läuft sie unruhig hin und her und versucht, sich zu orientieren. "Das ist jetzt natürlich eine komplette Umstellung in unserem Leben", sagt Lesja. "Ich möchte ihr jetzt einfach meine Wärme, Geborgenheit, Dankbarkeit geben". Wie sie die Pflege mit ihrer eigenen Arbeit vereinbaren soll, weiß sie allerdings noch nicht. Hauptsache, sagt sie, es sei immer jemand für Erika da.