Ukraine: Besuch an der eingefrorenen Front
7. März 2015Leutnant Igor und sein Kamerad Artem stehen auf dem Bahnsteig in Dnjepropetrowsk und warten geduldig auf die Ankunft des Fotojournalisten. Ein Blick auf die beiden genügt, um zu wissen, dass die ukrainische Armee nicht im besten Zustand ist. Ihre Uniformen sind aus zweiter Hand, die eine stammt aus britischen Armeebeständen, die andere zeigt deutschen Tarnfleck. Zusätzlich zu Union Jack und Schwarz-Rot-Gold haben die beiden sich die ukrainischen Landesfarben gelb und blau an die Schulter genäht.
"Erst gestern haben wir dieses Auto bekommen", sagt Igor, als er später am Steuer sitzt, unterwegs in Richtung Front. "Ein Geschenk aus Holland. Aber Waffen wollen sie uns nicht senden." Das Geschenk ist ein Passat, Baujahr Mitte der 90er Jahre. Die Armee hat ihn mit ihren Hoheitszeichen beklebt und militärisch ausgerüstet. Sprich: auf dem Beifahrersitz liegt ein Granatwerfer.
Igor und Artem transportieren mit ihrem Passat Essen und Verbandszeug, sie gehören zur Nachschubeinheit der ukrainischen Armee. Jeden Tag fahren sie an die Front, treffen unterwegs auf obdachlose Flüchtlinge und erschöpfte Soldaten. Beide Gruppen sind völlig abhängig von den Hilfslieferungen. Die bestehen zum Großteil aus privaten Spenden.
Auf dem Weg zur Front wird die karge Steppenlandschaft noch ein wenig karger. Die Erde ist vernarbt von Artelleriegeschossen, in Schlamm verwandelt von Panzerketten oder aufgewühlt für den Bau von Schützengräben. Bunker runden das trostlose Bild ab. Die Szenerie sieht so aus, wie man sich den ersten Weltkrieg vorstellt: Soldaten, die im Schützengraben über offenem Feuer kochen und mit Periskopen über gestapelte Sandsäcke aus dem Schützengraben lugen.
Die Scharfschützen der pro-russischen Einheiten sorgen für permanente Angst. Die beiden Offiziere zeigen immer wieder auf Fabrikdächer und Kirchtürme und warnen: "Wenn wir Dir sagen: lauf' schnell, dann beweg Dich auch. Wir wollen nicht wegen eines Fotografen abgeknallt werden." Sich schnell zu bewegen ist jedoch nicht einfach mit einer 12 Kilo schweren schusssicheren Weste, einem Helm, drei Kameras und einer Tasche voller Objektive im Arm.
Für die Soldaten der 28. motorisierten Infanterieeinheit in Marinka sorgt der umher rennende Fotograf für eine willkommene Abwechslung von der Langweile des Bunkerbaus. Nach den Kämpfen der vergangenen Monate sind nur noch Ruinen übrig von dem Städtchen. Angesichts der vorläufigen, brüchigen Waffenruhe herrscht gespannte Ruhe. "Das wird keine lange Pause sein, deswegen müssen wir uns auf die nächsten Kämpfe vorbereiten", sagen zwei junge Soldaten, die Munitionskisten schleppen. Sie tragen alte polnische Uniformen. Nur 400 Meter entfernt sind die Stellungen der Separatisten.
Im Passat geht es weiter entlang der Frontlinie. Fröhlich winken die Soldaten dem Auto zu, das Nachschub verheißt. Beliebt sind nicht nur die langen Unterhosen und das Essen, das Igor und Artem dabei haben. Zeitungen sind heiß begehrt. Mit ihnen lässt sich ein wenig Zeit totschlagen, während die Waffenruhe hält.
Schon seit mehr als drei Monaten leben die Männer der sechsten Kompanie in den Schützengräben der Station neun. Zwei gepanzerte Mannschaftswagen stehen tief eingegraben in der Stellung, nur die Maschinengewehre schauen aus dem Matsch hervor. "Storm", wie sich der Kommandant nennen lässt, erinnert sich: "Zuletzt wurden wir am Freitag, dem 13. Februar, von Artellerie beschossen. Ein sehr passendes Datum. Aber wir wurden nicht direkt getroffen, die Russen zielen schlecht."
Irgendwo in der Ferne steigt Rauch auf, vermutlich ein Artelleriegeschoss. Es scheint nicht auf ein bestimmtes Ziel gerichtet gewesen zu sein, sollte wohl eher für Einschüchterung sorgen. Die Soldaten ignorieren den Knall, lesen die frisch eingetroffenen Zeitungen hinter ihren Sandsäcken. Dazu gibt es Frühstück: gespendeten Speck und hausgemachte Marmelade. Hier wird gerade ein neuer Status Quo zementiert: die Armee hält die Front, hat sich in der Kälte tief eingegraben, in einer Gegend, die unbewohnbar geworden ist und weiterhin umstritten.
Später, beim abendlichen Kaffee in einem kalten Bunker mit Metallwänden, zeigen einige Soldaten auf ihren Telefonen Bilder gefallener Kameraden. Andere telefonieren mit ihren Familien. Das Gute am Bürgerkrieg: man kann den Kindern von der Front aus über Handy Gute Nacht sagen, ohne dass Auslandsgebühren anfallen. Die Soldaten im Bunker wirken nun fast wie Büroangestellte, die Überstunden machen und sich zwischendurch zuhause melden. Surreal.
Surreal ist auch die Rückkehr in Richtung Kiew. Bevor sie mich zum Zug bringen, wollen Artem und Igor in Dnjepropetrowsk unbedingt noch etwas Vernünftiges essen, sagen sie. Wir landen bei McDonalds. Gegen Mitternacht schwelgen die beiden mit doppelten Cheesburgern im Drive-In-Luxus. Später, im Zug, binde ich mir die Kameratasche ans Bein, aus Angst vor Dieben, die mich im Schlaf bestehlen könnten. Der Mann auf der Liege unter mir schnarcht, der Geruch von McDonalds-Fritten zieht durchs Abteil. Igor und Artem sind jetzt schon wieder auf dem Weg in Richtung Front. Ihr Passat rumpelt über die matschigen Straßen der Ostukraine, die entweder zum Krieg führen oder in einen eingefrorenen Konflikt.