Ukraine: Ein Krieg geht viral
30. Juli 2022Bevor ihre Tochter Liza am 14. Juli getötet wurde, postete Iryna Dmytrieva ein Video der Vierjährigen auf Instagram. Der Clip zeigte das Mädchen mit Down-Syndrom, wie sie unbeschwert ihren eigenen Kinderwagen durch die Straßen von Winnyzja im Südwesten der Ukraine schob.
Kurz darauf schlug eine russische Rakete in der Stadt ein, traf ein Krankenhaus, Geschäfte und Wohnhäuser - und tötete Liza sowie mindestens 23 andere. Über 200 Menschen wurden verletzt, darunter ihre Mutter.
In den Tagen darauf, während Dmytrieva im Krankenhaus mit ihren schweren Verletzungen kämpfte, verbreitete sich das Video von Liza online. Oft wurde es gemeinsam mit Nachrichtenbildern gepostet, die den umgestürzten, leeren Kinderwagens des Mädchens inmitten von Trümmern zeigten.
Irgendwann griffen internationale Medien die Geschichte auf. Als Liza beerdigt wurde, berichteten Publikationen wie die "New York Times" oder der australische Fernsehsender ABC darüber.
"Lizas Geschichte bricht einem das Herz", sagt Yuliya Tychkivska, Direktorin des Think Tanks Aspen Institute Kiew: "Sie zeigt die brutale Realität der russischen Invasion. Aber ohne soziale Medien wäre sie nie an die Öffentlichkeit gedrungen."
Der Tod der Vierjährigen und die Art und Weise, wie sich Nachrichten davon rund um den Globus verbreitetet haben, illustriert die Rolle sozialer Medien im Krieg in der Ukraine - einem Konflikt, der schon als "viralster Krieg" der Geschichte bezeichnet wurde.
Millionen De-facto-Kriegsberichterstatter
Seit soziale Medien Mitte der 2000er Jahre zum Massenphänomen wurden, haben sie Auswirkungen auf Kriege von Syrien bis Äthiopien. Aber erst eine Reihe technischer Fortschritte in den letzten Jahren haben alle Menschen mit Smartphones zu potentiellen Live-Kriegsberichterstattern gemacht. Das, kombiniert mit einer hohen Social-Media-Nutzung im Land, macht die Situation in der Ukraine einzigartig.
Laut einer Umfrage der ukrainischen Nichtregierungsorganisation Opora vom Mai 2022 informieren sich mehr als 76 Prozent aller Ukrainer in den sozialen Medien über den Verlauf des Krieges. Damit sind Online-Plattformen - insbesondere Telegram, YouTube und Facebook - zur populärsten Nachrichtenquelle im Land geworden.
Gleichzeitig nutzen Menschen in der Ukraine soziale Medien, um die Gräuel des Krieges zu dokumentieren. Online-Plattformen sind für sie zu einem wichtigen Instrument geworden, um Widerstand zu organisieren und Spenden zu sammeln für diejenigen, die besonders hart getroffen wurden. Und sie nutzen soziale Medien, um internationale Unterstützung zu mobilisieren.
Die Geschichte von Mariia Bilenka ist dafür ein Paradebeispiel: Mit Videos über "Skin Positivity” - Initiativen zum authentischen Umgang mit der eigenen Haut, einschließlich Krankheiten wie Akne - hatte sich die 25-jährige Social-Media-Managerin vor der Invasion auf TikTok eine große Followerschaft aufgebaut.
Dann marschierte Russland am 24. Februar in die Ukraine ein. Mariia Bilenka floh westwärts. Ihre Flucht endete in Deutschland. Dort fiel ihr auf, wie andere Ukrainer auf TikTok Clips posteten, die eine friedliche Ukraine vor dem Krieg zeigen, unterlegt mit Musik des Singer-Songwriters Tom Odell.
Bilenka ging ihre eigenen Videos auf ihrem Handy durch. Sie fand Aufnahmen des größten Flusses der Ukraine, des Dnjepr, eines Sonnenuntergangs über den Dächern von Kiew oder eines Breakdancers auf den Straßen der Hauptstadt. Daraus schnitt sie einen 15-sekündigen Videoclip und lud ihn hoch. Er wurde über vier Millionen Mal angesehen.
"Wenn ich schon diese Plattform habe, warum sollte ich sie nicht nutzen, um den Menschen dort draußen zu zeigen, wie das Leben in der Ukraine vor der Invasion war", sagt Bilenka während eines Telefonats aus Hamburg, wo sie jetzt lebt.
Mehr als vier Monate später hat die Influencerin auf TikTok Geld gesammelt und Informationen darüber veröffentlicht, welche ukrainischen Organisationen Spenden entgegennehmen. Es gehe ihr darum, die Welt daran zu erinnern, dass der Krieg in der Ukraine nicht vorbei sei, sagt sie: "Ich möchte nicht, dass die Menschen vergessen, dass jeden Tag Menschen kämpfen und getötet werden."
Jedes Mal, wenn einer ihrer mehr als 62.000 Follower - von denen viele in den USA, Frankreich oder Großbritannien leben - einen ihrer Clips sehe, helfe dies, hofft sie.
"Persönliche Geschichten sind unglaublich wichtig", sagt die Forscherin Yuliya Tychkivska. Inhalte wie Bilenkas TikToks-Videos würden helfen, internationale Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, vor allem bei einem nichtpolitischen Publikum.
Auch ukrainischen Regierungsvertretern ist diese Macht sozialer Medien bewusst. Seit Kriegsbeginn setzen sie auf Online-Plattformen, um Durchhaltebotschaften zu verbreiten. Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst, ehemals Schauspieler, veröffentlicht regelmäßig Videobotschaften auf Instagram, wo er fast 17 Millionen Follower hat, und auf anderen Plattformen.
Ein Lauffeuer von Falschnachrichten
Doch soziale Medien sind ein zweischneidiges Schwert: Online-Plattformen werden gleichzeitig von beiden Kriegsparteien genutzt, um Fakten zu verdrehen, Desinformationen zu verbreiten und die öffentliche Meinung zu manipulieren - mit dem Ziel, Einfluss auf den Verlauf des Krieges zu nehmen.
"Soziale Medien können zum Guten und zum Schlechten genutzt werden", sagt Yevhen Fedchenko, Direktor der Mohyla-Journalistenschule in Kiew und Mitbegründer von StopFake, einer gemeinnützigen Organisation, die russische Online-Propaganda dokumentiert: "Und man kann sie, wie alles andere auch, als Waffe einsetzen."
Auf der anderen Seite der Kampflinien hat Russland eine groß angelegte Social-Media-Kampagne gestartet, um seine Invasion zu rechtfertigen. Sie beinhaltet beispielsweise das Narrativ, ethnische Russen vor einem Völkermord schützen oder die Ukraine "entnazifizieren” zu müssen, und die Behauptung, die internationale Unterstützung für die Ukraine schwinde.
Oft sollen diese Narrative ein ganz bestimmtes Publikum erreichen - etwa Russlands große Diaspora oder ein Publikum in Afrika oder Asien, wo Moskau seinen Einfluss stärken möchte.
Und doch sind die meisten der Narrative laut StopFake-Mitbegründer Fedchenko nicht neu: Seit Russland 2014 die Halbinsel Krim annektierte, haben sich Desinformationen über den Krieg online wie ein Lauffeuer verbreitet.
Die Ukraine hat seitdem viel in den Ausbau schneller Internetverbindungen investiert und Initiativen auf den Weg gebracht, um Medienkompetenz im Land zu stärken: Schüler und Lehrer werden beispielsweise darin geschult, falsche Informationen online zu erkennen, mit denen sie getäuscht werden sollen. Dies verschaffe der Ukraine nun einen Vorteil im aktuellen Online-Informationskrieg, glaubt Fedchenko.
Er ist überzeugt, dass für die Ukraine die Vorteile sozialer Medien die Risiken überwiegen, seit vor fünf Monaten die ersten russischen Bomben auf das Land fielen: "Wenn wir keine sozialen Medien hätten, würde die internationale Berichterstattung über diesen Krieg ganz anders aussehen."
An diesem Artikel hat Eugen Theise mitgearbeitet.