Ukraine: Könnte Neutralität eine Option sein?
24. März 2022Eine neutrale Ukraine, etwa nach schwedischem oder österreichischem Vorbild? Das hat die russische Regierung Mitte März bei einer der Verhandlungsrunden als Ausweg aus dem Krieg ins Gespräch gebracht. "Das ist eine Variante, über die gesprochen wird und die als gewisser Kompromiss angesehen werden könnte", sagte Kreml-Sprecher Dimitri Peskow am 16. März.
Zwischen dem Beginn ihrer Unabhängigkeit 1991 und 2014 war die Ukraine bereits formell neutral. Aber unter dem Eindruck der Annexion der Krim durch Russland gab das ukrainische Parlament diese Politik auf. Anfang 2019 stimmte es mit großer Mehrheit für eine Verfassungsänderung. Seither ist nicht nur die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, sondern auch in der NATO Staatsziel mit Verfassungsrang.
Doch nicht nur Russland will das unbedingt verhindern. Die NATO selbst winkt ab, weil sie nicht in einen Krieg gegen Russland hineingezogen werden will. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat inzwischen eingeräumt, das Ziel eines NATO-Beitritts sei wohl unerreichbar.
Selbstgewählte oder aufgezwungene Neutralität
Könnte Neutralität also doch eine Option für die Ukraine sein? Vor allem drei neutrale Länder werden bei den Überlegungen immer wieder als mögliche Vorbilder genannt: neben Österreich und Schweden auch Finnland. Jedes hat eine andere Geschichte.
Österreich war am Ende des Zweiten Weltkrieges, so wie Deutschland, von den vier Siegermächten besetzt. In der österreichischen Verfassung ist eine "immerwährende Neutralität" seit 1955 verbindlich verankert. Die Sowjetunion konnte so zur Ratifizierung des Staatsvertrages und damit zum Abzug bewegt werden. Leos Müller ist Historiker an der Universität Stockholm und Autor des Buches "Neutrality in World History". Er schreibt der DW, bei Österreich sei es eine "Neutralität von oben, durch einen Vertrag durch Großmächte" gewesen.
Schweden hat im Gegensatz zu Österreich seine Neutralität selbst gewählt. Sie gilt seit mehr als 200 Jahren, seit das Land im Krieg gegen Russland 1809 seinen damaligen Landesteil Finnland an Russland abtreten musste.
Finnland selbst erkämpfte sich 1917 die Unabhängigkeit. Die konnte es nach zwei Kriegen gegen die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges wahren. "Wir hätten unsere Souveränität nicht behalten", sagt der frühere finnische Ministerpräsident Alexander Stubb der Deutschen Welle, "ohne eine selbsterklärte, pragmatische, in keiner Weise ideologische Neutralität". Doch "der Spielraum für Finnlands sicherheitspolitische und internationale Entscheidungen war während des Kalten Krieges sehr begrenzt".
Neutrale Länder nehmen an NATO-Manöver teil
In allen drei Fällen weichte diese Neutralität im Laufe der folgenden Jahrzehnte immer mehr auf. Österreich, Finnland und Schweden traten zwar bis heute keinem Militärbündnis bei, allerdings gemeinsam 1995 der Europäischen Union. Und diese hat auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik mit militärischen Elementen. Erst diese Woche beschlossen die EU-Außenminister den Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe mit bis zu 5000 Soldaten.
Besonders die beiden Russland-Anrainer Schweden und Finnland suchen die militärische Zusammenarbeit mit der NATO. Sie nehmen zum Beispiel am laufenden Großmanöver "Cold Response" in Nord-Norwegen teil, wenige hundert Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Das Manöver war lange vor dem Krieg in der Ukraine geplant und Russland wurde auch informiert. Aber jetzt bekommt es eine sehr unmittelbare Bedeutung. Im Juni vergangenen Jahres wurden Schweden und Finnland auch selbst aktiv: Sie luden sieben NATO-Staaten, darunter Deutschland, zum gemeinsamen Manöver "Arctic Challenge 2021" ein.
Große Mehrheit in Finnland für NATO-Beitritt
Der Krieg in der Ukraine hat die Situation völlig verändert. Im Gegensatz zu Österreich mit seiner europäischen Mittellage fühlen sich Schweden und Finnland gegenüber Russland "strategisch exponiert", wie es Leos Müller beschreibt. Zur Begründung nennt er die lange finnisch-russische Grenze, die heikle Situation in den NATO-Mitgliedsländern Estland und Lettland mit ihren starken russischsprachigen Minderheiten und die hochgerüstete russische Exklave Kaliningrad auf der anderen Seite der Ostsee.
Neu ist, dass sowohl in Schweden wie auch in Finnland jetzt intensiv diskutiert wird, ob sie ihre Neutralität aufgeben und Schutz bei der NATO suchen sollen. Dann würde auch für sie die NATO-Beistandspflicht gelten nach Artikel 5: Danach wird der Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf alle betrachtet - und muss gemeinsam abgewehrt werden.
Finnland werde "definitiv" beitreten, glaubt Finnlands Ex-Premier Stubb. "Das ist keine Frage des Ob, sondern des Wann." Er rechne "in wenigen Monaten" mit einem finnischen Antrag. Laut jüngsten Umfragen sind inzwischen 62 Prozent der Finnen für eine Mitgliedschaft, nur noch 16 dagegen. "Der Zug hat den Bahnhof verlassen", sagt Stubb, "Endstation wird das NATO-Hauptquartier sein". Sollte eine Anfrage Finnlands bei der NATO kommen, wäre das "höchst willkommen", hat Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz bereits gesagt.
Leos Müller in Stockholm ist da vorsichtiger. Immerhin gibt es jetzt in Schweden eine relative Mehrheit von 41 zu 35 Prozent für einen Beitritt. Bei den schwedischen Parlamentswahlen im September werde die Frage einer NATO-Mitgliedschaft "DAS Thema sein". Seit Ausbruch des Krieges habe sich die Stimmung sehr verändert, hat Müller beobachtet. Und er glaubt, "falls beide Länder beitreten sollten, dann zusammen, koordiniert".
Entmilitarisierung wäre "undenkbar für ein neutrales Land"
Zwei Länder, die wegen der russischen Bedrohung ihre Neutralität aufgeben könnten, fallen damit als mögliches Modell für die Ukraine aus. In Österreich gibt es bisher keine vergleichbare Bewegung. Aber Österreich ist geostrategisch in einer anderen Lage.
Doch egal, welches Beispiel man heranzieht, Leos Müller glaubt, dass eine Neutralität für die Ukraine nicht funktionieren würde: Andere Staaten oder Organisationen, etwa die USA, Russland oder die NATO, müssten als Garantiemächte für diese Neutralität einstehen und die Ukraine im Fall eines Angriffs schützen. "Doch das erfordert ein funktionierendes Völkerrecht, funktionierende Abkommen und Organisationen. Heute bricht Russland aber mit all dem." Außerdem verlangt Russland eine "Entmilitarisierung" der Ukraine - "eine undenkbare Forderung für ein neutrales Land", urteilt Müller. Wie Schweden oder die Schweiz brauche die Ukraine Verteidigungskapazitäten.
Dass internationale Garantien am Ende wertlos sein können, musste die Ukraine bereits erleben: 1994 hatte sie sich im Budapester Memorandum verpflichtet, ihre aus der Konkursmasse der Sowjetunion stammenden Atomwaffen aufzugeben. Im Gegenzug verpflichteten sich Russland, die USA und Großbritannien, die Souveränität sowie die Grenzen der Ukraine zu achten. 20 Jahre später annektierte Russland die ukrainische Krim; die beiden westlichen Mächte ließen es zu.
Ein Moment wie 1914
Sowohl der schwedische Historiker Müller wie auch der ehemalige finnische Premier Stubb halten den Krieg in der Ukraine für eine dramatische Zäsur. "Putins Krieg zertrümmert gerade die Weltordnung nach 1945", so Leos Müller.
Alexander Stubb fügt hinzu: "Für mich ist dies der Moment von 1914 oder 1939 oder 1989 unserer Generation." Nach dem Eisernen Vorhang des Kalten Krieges werde es jetzt einen neuen Vorhang in Europa geben und "Russland vollkommen isoliert sein". Natürlich werde man irgendwann wieder mit Russland zu tun haben. "Doch für mich als Finne ist es eine dramatische Erkenntnis, dass wir mit unserer 1340 Kilometer langen gemeinsamen Grenze auf absehbare Zeit wohl keinen Kontakt mit unseren Nachbarn haben werden."
Sollte Finnland seine Neutralität aufgeben und NATO-Mitglied werden, würden Russland und das westliche Bündnis an dieser langen Grenze im Norden Europas direkt aufeinanderstoßen.