Umstrittenes Filmprojekt: "DAU. Natasha"
29. Februar 2020Zwei Filme der umstrittenen "DAU"-Reihe sind bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin zu sehen: Der Wettbewerbsbeitrag "DAU. Natasha" hatte am Mittwoch Premiere. "DAU. Degeneration" wurde am Freitag gezeigt. Schon vor der ersten Vorführung haben Kritiker die Entscheidung der Festivalorganisatoren in Frage gestellt, drei Jahre nach dem Start der #MeToo-Bewegung die Werke des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovskiy zu fördern. Er wird beschuldigt, mit seinem ehrgeizigen Projekt ein Arbeitsumfeld geschaffen zu haben, das Frauen unterdrückt.
Schon im Februar 2019 wurde eine alternative Version des Films in einer umfassenden Multimedia-Ausstellung in Paris gezeigt. So wurde die umstrittenste Szene von "DAU. Natasha" bereits vor der Berliner Premiere enthüllt: Eine Frau namens Natasha wird von einem KGB-Offizier verhört und gefoltert und zu sexuellen Handlungen mit einer Flasche gezwungen. Solche Szenen seien entstanden, indem sich die Schauspielerinnen und Schauspieler einfach auf die jeweilige Situation eingelassen hätten, beschrieb die Schauspielerin Natalia (Natasha) Berezhnaya. "Wir waren für unsere eigenen Gefühle und Emotionen verantwortlich. Uns war sehr wohl bewusst, was wir taten", sagte sie auf einer Pressekonferenz vor der Premiere in Berlin. Sie sagte aber auch: "Natürlich hatten wir ein bisschen Angst."
Außergewöhnliche Produktion
Der Produktion zugrunde lag ein äußerst ungewöhnliches Konzept: 2009 erschuf der Filmemacher Khrzhanovskiy in Charkow, einer 1,4-Millionen-Stadt im Osten der Ukraine, eine geschlossene stalinistische Gesellschaft. Teilnehmer und Teilnehmerinnen wie Natalia Berezhnaya legten ihr normales Leben auf Eis, um drei Jahre lang von der Außenwelt abgeschnitten in der 13.000 Quadratmeter großen Fake-Stadt "Das Institut" zu leben, in der ein totalitäres Regime aus der Sowjetzeit nachgebildet wurde.
Auf dem größten Filmset der europäischen Filmgeschichte sollten sich die Teilnehmer nach den strengen Regeln des Instituts kleiden und verhalten, in dem okkulte wissenschaftliche Experimente durchgeführt wurden. Die Besetzung bestand überwiegend aus Laienschauspielerinnen und Laienschauspielern, die Wissenschaftler, Intellektuelle, Sicherheitsbeamte, Familienangehörige und im Fall von Natascha und ihrer Kollegin Olga (Olga Shkabarnya) Kantinenmitarbeiterinnen spielten.
Von den hunderten Teilnehmerinnen und Teilnehmern der "stalinistischen Truman-Show" wurde erwartet, dass sie ihre Rollen weiterspielten - selbst dann, wenn keine Kameras in der Nähe waren. Das führte dazu, dass die Fake-Community eine eigene Dynamik entwickelte, ähnlich wie bei dem berüchtigten Experiment im Stanford-Gefängnis, bei dem Teilnehmer, denen die Rolle von Gefängniswärtern zugewiesen worden war, anfingen, ihre repressiven Aufgaben etwas zu ernst zu nehmen. Im "Institut" basierten die Rollen der Teilnehmer oft auf ihren Erfahrungen aus dem realen Leben. So wurde zum Beispiel die Rolle des Geheimdienstagenten, der Natasha foltert, von Vladimir Azhippo übernommen, einem ehemaligen KGB-Offizier.
Diejenigen, die sich dem Projekt angeschlossen haben, seien sich der Tatsache bewusst gewesen, dass sie in schwierige Situationen geraten könnten, meint Khrzhanovskiy: "Dies ist ein Projekt darüber, wie Menschen sich bewusst für eine Reise entscheiden, eine schwierige emotionale Reise, die sehr ehrlich ist." Er sagte, er hätte das Gefühl, dass die von ihm geschaffene Umgebung überwachter und sicherer sei, als frei in einer Großstadt wie Berlin herumzulaufen. "Wir hatten kein Drehbuch, wir haben unser Leben gelebt", fügte Berezhnaya hinzu. Gleichzeitig stellte sie später klar, dass diejenigen, die glaubten, dass alles wahr sei, was sie in dem Film sehen, daran erinnert werden sollten, dass "wir unglaubliche Regisseure und unglaubliche Cutter haben und wir unglaubliche Schauspieler sind".
Mitgehangen, mitgefangen
"Bei diesem Projekt ging es darum, dass das gesamte Team zusammenarbeitet - mit Licht, Ausrüstung, Ton, der gesamten Crew - wir alle mussten die Atmosphäre aufrechterhalten. Wir waren alle ein Teil davon", sagte Khrzhanovskiy auf der Pressekonferenz am Mittwoch. Am nächsten Tag wurde bei einem Gespräch im Rahmen der "Berlinale Talents" deutlich, dass nicht alle Mitglieder der Crew diesen Eindruck von einer Einheit teilten.
Khrzhanovskiy verbrachte den gesamten Vortrag damit, ausweichende Antworten auf die Fragen des Moderators und des Publikums zu geben. Auf die Frage, ob ein Psychologe am Set war, um den Schauspielern die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen zu ermöglichen, antwortete er zum Beispiel: "Die Frage ist, was ist eigentlich ein Psychologe..." Er wies darauf hin, dass bestimmte Personen natürlich die Rolle von Vertrauenspersonen übernommen hätten, wie etwa die Kostümbildnerin und Maskenbildnerin Jekaterina Oertel, die später als Co-Regisseurin von "DAU. Natasha" aufgeführt wurde, weil sie die Geschichte durch die Bearbeitung des Filmmaterials weiterentwickelt habe.
Gegen Ende der Diskussion wandte sich eine Frau aus dem Publikum direkt an den Regisseur: "So wie Sie mit uns spielen und unseren Fragen ausweichen, muss ich sagen, dass ich mich manipuliert fühle - und das verrät mehr über Ihren kreativen Prozess als der Film selbst." Ein Mann aus dem Publikum sagte, er sei tatsächlich Teil des Projekts gewesen, als erster Assistent des zweiten Kamerateams. Matthias Ganghofer bekräftigte, dass er dieses Gefühl der Manipulation und Demütigung auch ohne eine zentrale Rolle in der Produktion am eigenen Leib erfahren habe; als Strafe dafür, dass er sein Handy im Institut benutzt hatte, sei sein Name auf eine Tafel geschrieben worden. Er sagte, dass er das Projekt nach drei Monaten verlassen habe. Der Filmemacher behauptete, er sei besser gefeuert worden. "Ich habe eine Unmenge Leute gefeuert", schloss Khrzhanovskiy.
"Pornographische Propaganda" in Russland verboten
Während der drei Jahre des DAU-Instituts nahm der deutsche Kameramann Jürgen Jürges an 180 Tagen insgesamt 700 Stunden Material auf. Daraus sind bereits 13 Filme entstanden. Khrzhanovskiy sagte, dass die verschiedenen Filme noch vor Ende des Jahres auf der Website dau.com gesammelt werden sollen.
Doch vorerst wurden viele der Filme vom russischen Kulturministerium als "pornografische Propaganda" bezeichnet, was laut Khrzhanovskiy schlimmer sei als die einfache Pornografie-Kategorie. "'Pornografische Propaganda' bedeutet, dass ich verhaftet werden kann, wenn ich mit einer DVD des Films ins Land komme", sagte der Regisseur der "Süddeutschen Zeitung". Er klagt nun gegen die Aufnahme in die Liste. "Das fairste Gericht aller Zeiten wird eine Entscheidung fällen", fügte er auf der Pressekonferenz mit einem Verweis auf die russische Justiz ironisch hinzu.
Zu verstörend für das Mainstream-Publikum
Von seinem größenwahnsinnigen Ausmaß bis zu seinen pornografischen und repressiven Szenen, von der russischen Zensur bis zur Hintergrundgeschichte des Hauptinvestors des Projekts, des russischen Oligarchen Sergej Adoniev - das Projekt hat viele Schlagzeilen produziert. Doch trotz der kostenlosen Werbung werden die Filme voraussichtlich nicht zu Mainstream-Hits werden.
Mit dem langsamen, lebensnahen Schauspiel, der Filmkunst im Stil der Cinéma-Vérité und der minimalistischen Handlung könnte "DAU. Natasha" Arthouse-Liebhabern gefallen. Aber selbst die Pressevorführung haben viele Kulturjournalisten vorzeitig verlassen - noch weit vor der erwähnten Folterszene. Über das ehrgeizige Projekt sagt die deprimierende Schilderung von Natashas Leben nur wenig aus. Sie betrinkt sich jeden Abend nach der Arbeit, streitet mit ihrer Kollegin Olga oder vergnügt sich in einer langen Sexszene mit dem französischen Wissenschaftler Luc. Das alles war offenbar nicht überzeugend genug - oder zu verstörend - für die vielen Zuschauer, die sich weigerten, bis zum Ende des Films sitzen zu bleiben.