UN sehen Europa in der Pflicht
15. April 2015Nach Angaben von Überlebenden, die von der italienischen Küstenwache gerettet wurden, waren insgesamt 550 Flüchtlinge auf dem Boot. Rund 140 Menschen wurden gerettet, nachdem das Schiff gekentert war. Nur neun Leichen konnten bislang geborgen werden. Die restlichen Menschen, die auf dem Boot waren, seien vermutlich tot, sagt William Spindler, Sprecher des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR).
Mitarbeiter der UN-Behörde sprachen mit den Überlebenden, nachdem diese am Dienstag in der süditalienischen Stadt Reggio Calabria angekommen waren. Nach Angaben der Flüchtlinge sei das überfüllte Schiff gekentert, als ein Handelsschiff, das von italienischen Behörden zu Hilfe gerufen worden war, das Boot der Flüchtlinge ansteuerte. Dieses sei 130 Kilometer südlich von Lampedusa gesunken, wo 2013 rund 600 Menschen ertrunken waren, so Spindler. "Als das Boot die Flüchtlinge ansteuerte, waren sie sehr aufgeregt und liefen auf eine Seite des Bootes, weil sie darauf hofften, nun gerettet zu werden", sagt Spindler der DW.
Nach Angaben von UNHCR sind damit dieses Jahr bereits 900 Flüchtlinge im Meer ertrunken.
"Großer Anstieg im Vergleich zum letzten Jahr"
"2014 wurden im gleichen Zeitraum 17 Menschen als verstorben oder vermisst gemeldet. Wir können also von einem großen Anstieg im Vergleich zum letzten Jahr sprechen", so Spindler.
Da die meisten Flüchtlinge das Mittelmeer im Sommer überqueren, wird damit gerechnet, dass die Zahl der Todesfälle noch weiter steigen wird. "Die Saison der Überfahrten hat gerade erst begonnen", sagt Judith Sunderland von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Eine beispiellos große Anzahl von Flüchtlingen habe bereits in den Wintermonaten unter den schlimmsten Wetterbedingungen versucht, das Mittelmeer zu überqueren. "Alles deutet darauf hin, dass mehr und mehr Menschen diese Überfahrten wagen werden, sobald sich das Wetter verbessert und je schlimmer die Situation in Libyen wird."
Vorhersehbares Desaster?
Viele hätten schon frühzeitig darauf hingewiesen, dass 2015 ein weiteres trauriges Rekordjahr in Bezug auf Migranten und Asylsuchende sein werde, die sich auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer machen. "Wir wissen, dass die Mittelmeer-Route die tödlichste Migrationsroute der Welt ist", so Sunderland.
Menschenrechtsorganisationen fordern schon seit langem, dass die EU eine gemeinsame Lösung für die Krise im Mittelmeer finden müsse.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk nennt zwei Gründe für die steigende Zahl der Todesfälle. Zum einen sei Italiens Rettungsmission Mare Nostrum vom EU-Programm Triton abgelöst worden, das sich auf Überwachung und Patrouillen konzentriert. Und mehr Menschen versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, weil sich die Situation in Libyen zuspitzt.
Mare Nostrum wurde von weniger umfassend ausgestatteten Operationen ersetzt, die auch kein Rettungsmandat haben. "Ihr Mandat ist, an Italiens Seegrenzen zu patrouillieren", so Spindler. Mare Nostrum soll letztes Jahr Hunderttausende Menschen vor dem Ertrinken gerettet haben.
Statt Italien dafür zu loben, dass es die große Last mit dem Mare Nostrum-Programm allein getragen habe, seien aber kritische Stimmen anderer EU-Staaten laut geworden, sagt Sunderland. "Sie argumentierten, dass Mare Nostrum Leute dazu ermutige, das Meer zu überqueren."
Amnesty International hat Europa dafür kritisiert, nicht genug zu tun. "Regierungschefs in London, Paris, Berlin und anderen europäischen Hauptstädten müssen zugeben, dass ihre jetzige Strategie nicht funktioniert, und sich stattdessen für eine koordinierte humanitäre Operation im Mittelmeer einsetzen, die mindestens die gleiche Wirkung wie Mare Nostrum hat", erklärte Gauri Van Gulik von Amnesty International in einem Statement.
EU soll "Führungsrolle einnehmen"
Die UN sagt ebenfalls, dass es eine gemeinsame europäische Reaktion geben müsse. "Dieses Problem liegt jenseits der Kapazitäten eines einzelnen Landes. Wir wollen, dass die Europäische Union eine Führungsrolle einnimmt und eine europäische Antwort koordiniert", so Spindler.
Neben einer Stärkung der Rettungsmission sollte sich die EU auch darum kümmern, legale Alternativen zu finden, damit Flüchtlinge nach Europa kommen können, sagt Spindler. "Früher nutzten vorwiegend Wirtschaftsmigranten diese Route, um nach Europa zu gelangen, aber in den letzten Jahren haben wir gesehen, dass die Zahl der Flüchtlinge zugenommen hat. Letztes Jahr kamen mehr als die Hälfte aller Bootsflüchtlinge aus Syrien und anderen Kriegsgebieten."
Deutschland gehe mit gutem Beispiel voran, indem es 30.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen habe. Seine Organisation würde gerne "mehr von diesen Initiativen in Europa sehen", sagt Spindler.