Aufklärung
10. August 2010Die wesentlichen Fakten sind unumstritten: Am 31. Mai 2010 enterten israelische Marinesoldaten in den internationalen Gewässern vor der Küste Gazas das türkische Schiff "Mavi Marmara" und töteten neun pro-palästinensische Aktivisten. Höchst umstritten ist aber der genaue Tathergang - und damit die Schuldfrage. Zudem wird erbittert darüber gestritten, ob es sich bei den getöteten Türken um humanitäre oder militante Aktivisten gehandelt hat.
Für den israelischen Regierungschef ist die Frage längst beantwortet: "Sie haben schon die ersten unserer Soldaten, die auf das Schiff gekommen sind, vorsätzlich angegriffen", erklärte Benjamin Netanjahu in seiner ersten Reaktion auf den blutigen Vorfall. "Unsere Soldaten wurden geschlagen, niedergestochen und es gab sogar Schüsse. Sie hatten sich zu verteidigen – oder sie wären selbst getötet worden."
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hält diese Vorwürfe für falsch. Er sprach nach dem Vorfall öffentlich von israelischem "Staatsterrorismus" und forderte: "Dieses blutige Massaker, das Israel an einem humanitären Hilfskonvoi verübt hat, muss auf das Härteste bestraft werden. Das war ein Angriff auf das internationale Recht, auf die Menschlichkeit und auf den Weltfrieden."
Keine Sanktionsmöglichkeiten
Die UN-Kommission, die am Dienstag (10.08.2010) ihre Arbeit aufnehmen soll, kann freilich selbst keine Strafen verhängen. Sie soll aufklären, Empfehlungen geben - und wird dabei auch die Beweiskraft des umfangreichen Video- und Fotomaterials zu prüfen haben, das Anhänger und Gegner der Gaza-Flotte insbesondere auf Seiten wie Facebook und YouTube ins Internet gestellt haben. Dass sowohl Israel als auch die Türkei jeweils selbst einen Vertreter entsenden dürfen, dürfte die Erfolgsaussichten des Gremiums allerdings erheblich beschränken.
Anfänglich hatte Israel die Rufe der UN, der USA und europäischer Staaten wie Deutschland nach einer internationalen Untersuchung noch kategorisch abgelehnt. Insbesondere Israels Außenminister Avdigor Lieberman gab sich in diesem Punkt entschlossen, als er erklärte: "Mir ist erstens lieber, internationale Kritik hinnehmen zu müssen, als Soldaten zu beerdigen. Und zweitens: Die Flotte hat Gaza nicht erreicht – und auch kein anderes Schiff wird nun die Küste Gazas erreichen."
Dass Israel – anders als in vergleichbaren Fällen - letztlich doch noch einer internationalen Untersuchung zugestimmt hat, dürfte an verschiedenen Faktoren liegen: Zum einen gehört der Kommission neben dem als neutral geltenden früheren neuseeländischen Regierungschef Geoffrey Palmer sowie den türkischen und israelischen Vertretern auch der ehemalige kolumbianische Präsident Álvaro Uribe an - und ihm werden pro-israelische Tendenzen nachgesagt. Zum anderen setzte sich Israel mit der Forderung durch, dass die UN-Kommission nicht direkt israelische Soldaten befragen darf. Außerdem dürfte in Jerusalem erhebliches diplomatisches Interesse an einer Verbesserung der Beziehungen zur Türkei bestehen. Ankara war über Jahrzehnte hinweg Israels engster und verlässlichster Partner in der islamischen Welt gewesen, selbst in militärischen Angelegenheiten gab es eine enge Kooperation.
Amerikanischer Druck?
Der israelische Analyst Tzvi Barel, Journalist bei der Tageszeitung "Haaretz", glaubt allerdings nicht, dass Ankaras Forderungen nach einer offiziellen Entschuldigung und finanziellen Entschädigungen für die Opfer-Familien für Israel entscheidend gewesen sind: "Ich denke, dass Israel eher amerikanischem als türkischem Druck nachgegeben hat", erklärt Barel. "Die Türkei selbst sucht nach einem Weg, um gesichtswahrend von ihren hohen Forderungen herunterzukommen. Die Entscheidung zur Einberufung dieser Kommission dient damit letztlich also ebenso den türkischen wie den israelischen Interessen."
Dass Israels Armee unverhältnismäßig reagiert hat, wird auch in einigen israelischen Medien beklagt. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass die Soldaten in eine Falle getappt seien. Doch auch die Türkei wird sich unangenehmen Fragen stellen müssen: Waren die Aktivisten bewaffnet? Und warum durfte das Schiff überhaupt auslaufen, nachdem Israel bereits gedroht hatte, einen Bruch der über Gaza verhängten Seeblockade notfalls gewaltsam zu verhindern?
Die UN-Kommission ist nicht das einzige Gremium, das sich mit dem Vorfall befasst. Ähnliche Ausschüsse wurden beim UN-Menschenrechtsrat in Genf sowie auf politischer und militärischer Ebene in Israel selbst gebildet. Insgesamt sind fünf Gremien mit dem tödlichen Zwischenfall auf der "Mavi Marmara" beschäftigt. Ob sie in diesem hoch politisierten und emotionalen Streit wirklich zur Wahrheitsfindung beitragen können, bleibt abzuwarten.
Autor: Rainer Sollich
Redaktion: Ina Rottscheidt