UN: Vorbereitung auf IS-Expansion
11. Juni 2015Es ist das absolute Worst-Case Szanario für den Irak: Die Ausbreitung des selbsternannten "Islamischen Staates", auch bekannt unter "ISIS" oder "IS". Das internationale Vorgehen gegen die Allianz wankt. Bartsch präsentiert eine bunte Karte des Irak während seines Interviews in Berlin. Einige Städte, darunter Falludscha und Tikrit, sind rot umrandet. Es ist wahrscheinlich, so fügt er an, dass es bald eine Welle von "Ramadis" geben wird. Bartsch bezieht sich damit auf die Hauptstadt der Provinz Al-Anbar. Diese fiel erst vor einem Monat in die Hände der IS-Kämpfer.
Deutsche Welle: Wie viele Städte sind davon bedroht, in die Hände der Extremisten zu fallen?
Dominik Bartsch: Momentan gehen wir davon aus, dass eine ganze Reihe von Städten nördlich von Bagdad bis hinauf nach Mossul in den nächsten Monaten von Kämpfen heimgesucht werden. Bisher hatten wir uns vor allem auf diese Menschen konzentriert, die aus Mossul fliehen mussten. Jetzt bereiten uns auch die kleineren Städte Sorgen. Davon gibt es in diesem Gebiet eine ganze Reihe und die Kämpfe tragen viel dazu bei, dass viele der Menschen zu Flüchtlingen wurden.
Über was für Zahlen sprechen wir?
Im schlimmsten Fall reden wir von bis zu einer Millionen Iraker. In Mossul selbst wohnen noch einmal 1,5 Millionen Menschen. Die wären auch alle betroffen, wenn sich der Krieg tatsächlich bis nach Mossul erstrecken sollte. Wir hoffen darauf, dass das nicht geschehen wird. Andererseits haben uns die jüngsten Entwicklungen gezeigt, dass es länger als erwartet dauern wird, bis man den "Islamischen Staat" vertrieben haben wird. Man sollte einfach sicher gehen, dass die Bevölkerung in diesen Gebieten auch wirklich genügend Unterstützung bekommt.
Ist die irakische Regierung überhaupt in der Lage, mit diesem riesigen Strom an Flüchtlingen umzugehen?
Ich glaube, dass die irakische Regierung zusammen mit der kurdischen Autonomieregierung wirklich versucht, diesen Menschen zu helfen. Die größte Herausforderung momentan besteht darin, dass die irakische Regierung pleite ist. Die Fähigkeit, Lösungen auf dringende Antworten zu finden, Sozialhilfeleistungen einzuführen, die medizinische Versorgung zu gewährleisten, die Schulen vernünftig auszustatten - all diese Dinge können momentan nicht angeschoben werden, schlicht und ergreifend, weil das Geld fehlt. Das liegt vor allem am gesunkenen Ölpreis. Die fehlenden Einnahmen machen es der irakischen Regierung sehr schwer, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Zu allem Überfluss kommt das auch noch zu einer Zeit, in der sich auch die Internationale Gemeinschaft sehr zurückhaltend verhält, sobald es um die Vergabe finanzieller Mittel geht. Unter dem Strich führt das dazu, dass unsere Standards bei Hilfsleistungen rapide in den Keller gesunken sind. Momentan konzentrieren wir uns primär darauf, lebensrettende Maßnahmen zu unterstützen.
In der Vergangenheit sind immer wieder regionale Akteure eingesprungen, um humanitäre Hilfe zu leisten. Welche Rolle schreiben Sie diesen Akteuren in der momentanen Situation zu?
Wir hoffen stark, dass einige dieser Regierungen in der Region dazu beitragen werden, eine humanitäre Katastrophe in der Region zu verhindern. Dies kann in der Rolle von Geldgebern geschehen, als Unterstützer von Hilfsangeboten, oder indem man politischen Einfluss geltend macht.
Es gab Berichte, wonach sich Flüchtlinge geweigert haben, in sunnitische Gebiete zurückzukehren, die von schiitischen Milizen befreit wurden. Können Sie bestätigen, dass es auch ein Konflikt der Konfessionen ist, der sich dort abspielt?
Es gibt diese Dynamiken in der Tat. Es ist offensichtlich, dass es eine sehr besorgniserregende Entwicklung in den Beziehungen zwischen Sunniten und Schiiten gibt. Wir sind allerdings vor allem um diejenigen besorgt, die von diesem Konflikt am meisten betroffen sind. Und in diesem Fall ist es wirklich nicht von Bedeutung, welcher Konfession diese Menschen angehören. Sie sind vor allem Opfer dieses Konflikts und brauchen unsere Hilfe.
Leisten Sie auch Hilfe in den von IS kontrollierten Gebieten?
Wo es möglich ist, versuchen wir, auch denjenigen zu helfen, die in schwer zugänglichen Gebieten wohnen. Dabei geht es allerdings nicht um offizielle Verhandlungen.
Das bedeutet, dass Sie auch mit örtlichen Nichtregierungsorganisationen arbeiten würden?
Das ist korrekt.
Dominik Bartsch ist der Irak-Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen. Die UN haben einen Notfall-Aufruf gestartet. 500 Millionen US-Dollar muss die Internationale Gemeinschaft aufbringen, um die Kosten dieser humanitären Hilfsprogramme zu tragen.
Das Gespräch führte Naomi Conrad.