Die Armut dehnt sich aus
12. Oktober 2013DW: Frau Underlin, in Ihrer Studie heißt es: "Während andere Kontinente ihre Armut erfolgreich reduzieren, vergrößert Europa seine." Sie sagen, dass sogar wenn sich die Wirtschaft erholt, die langfristigen Konsequenzen der Sparpolitik bleiben werden. Was werden diese Konsequenzen sein?
Annitta Underlin: Erstens sehen wir, dass die Armen ärmer werden. Wir begegnen den "Neu-Armen", die sich noch nie zuvor in ihrem Leben ans Rote Kreuz gewandt haben, um Hilfe zu bitten. Da kommt eine ganz neue Gruppe. Innerhalb der Neu-Armen macht uns besonders die steigende Jugendarbeitslosigkeit Sorgen. In einigen Ländern Europas sind bis zu 60 Prozent der Jugendlichen ohne Arbeit.
Außerdem sorgen wir uns um die langfristigen Folgen in den Bereichen Gesundheit und Soziales. Studien haben gezeigt, dass ein Land, welches in der Krise sein Budget für diese beiden Sektoren nicht kürzt, sich schneller von der Krise erholt. Wir sind darüber besorgt, dass einige Regierungen weniger Geld für diese wichtigen Bereiche einplanen.
Aber die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat uns gezeigt, dass parallel zum Höhepunkt der Krise auch die Selbstmordrate ansteigt. Die langfristige Auswirkung, die die Krise auf Familien und Kinder hat, ist besorgniserregend.
Sie sagen eine der schlimmsten Auswirkungen, zusätzlich zu den direkten Problemen, wie die steigende Anzahl an Menschen, die sich wegen Lebensmittel ans Rote Kreuz wenden, ist die große Unsicherheit in der traditionellen Mittelklasse. Was meinen Sie damit?
In einigen Ländern schrumpft die Mittelklasse. Serbien zum Beispiel hat es geschafft, in guten Zeiten eine mittlere Einkommensklasse aufzubauen. Heute schrumpft diese Bevölkerungsgruppe - einige fallen unter die Armutsgrenze. Auch Ungarn wurde schwer von der Krise getroffen. Nachforschungen haben gezeigt, dass 80 Prozent der Mittelklasse dort all ihr zur Verfügung stehendes Einkommen jeden Monat ausgibt. Das bedeutet, dass sie nichts ansparen können und keinen Puffer haben. Wenn also zum Beispiel der Kühlschrank kaputt geht, oder ein Kind Geld für einen Schulausflug braucht, dann ist das einfach nicht im Budget drin. Es gibt einen Anstieg der Lebenshaltungskosten, aber das Geld, was die Leute zur Verfügung haben, passt sich dem nicht an.
Einer der Punkte in Ihrer Studie, der viele Leute vielleicht überraschen wird, ist, dass nicht nur die Krisenländer in Südeuropa und Irland ernsthafte Folgen zu spüren bekommen. Auch angebliche europäische Erfolgsgeschichten wie Deutschland sind von der Krise betroffen. Wie schlägt sich das dort nieder?
Es ist ernster als wir dachten. In Deutschland ändert sich die gesamte Struktur der Gesellschaft. Die meisten neuen Arbeitsplätze in Deutschland sind heute befristet. Das heißt, dass die Arbeitnehmer keinen festen Vertrag haben, sie haben keine dauerhaften Jobs, sondern werden nur für gewisse Zeiträume angestellt. Gleichzeitig wissen wir vom deutschen Roten Kreuz, dass die Leute, die sich dort ans Rote Kreuz wenden, ein Einkommen haben. Es reicht nur nicht aus, um für ihr Haus, ihren Strom und die anderen Lebenshaltungskosten zu zahlen. Um zu überleben, bitten sie das Rote Kreuz um Lebensmittel-Hilfe.
Der Anstieg von persönlicher Unsicherheit und der sinkende Lebensstandard in Europa könnte zu sozialen Unruhen und wachsendem Extremismus führen, sagen Sie. Wann ist da Ihrer Meinung nach ein Punkt ohne Wiederkehr erreicht?
Wir glauben, dass noch Zeit ist, wenn wir uns jetzt die Hände reichen und die Regierungen verstehen, wie ernst die Situation ist. Wir sehen zwei Kategorien von Menschen: Zum Einen sind da die Menschen, die wir die "stillen Verzweifelten" nennen. Sie sitzen zuhause und schämen sich, dass sie nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Ein Teil dieser Gruppe taucht in den steigenden Selbstmordraten auf, die wir beobachten.
Eine andere Gruppe, hauptsächlich junge Leute, geht auf die Straße, um sich Gehör zu verschaffen. Wenn 60 Prozent der jungen Leute weder in einer schulischen Ausbildung sind, noch einen Arbeitsplatz haben, ist es klar, dass auch diese Gruppe verzweifelt ist. Deswegen möchten wir die Regierungen dazu bewegen, ernsthafte Maßnahmen einzuleiten. Sonst bekommen wir die langfristigen Auswirkungen zu spüren.
Sie repräsentieren die Europäischen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Was haben Sie aus Ihrer Studie gelernt und welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?
2009 haben wir die erste Studie in der Wirtschaftskrise durchgeführt. Wir haben damals die gleichen nationalen Gesellschaften interviewt wie heute. Wenn wir jetzt zurückblicken, sehen wir, dass niemand von uns dachte, die Krise würde so lange anhalten. Wir dachten sie würde schnell wieder vorbeigehen. Niemand von uns hatte 2009 genug Vorstellungskraft, um die Situation im heutigen Europa verstehen zu können: 3,5 Millionen Menschen bekommen Lebensmittel vom Roten Kreuz und vom Roten Halbmond. Und wir sind nicht die einzigen, die Essen verteilen. 43 Millionen Europäer bekommen jeden Tag nicht genug zu essen. 18 Millionen bekommen EU-finanzierte Unterstützung. Die Krise hat sich in jeden Bereich des Lebens gefressen: in die einzelnen Familienhaushalte, in die Gemeinden und in die Regierungen. Und das in ganz Europa.
Das Interview führte Nina Haase.
Annitta Underlin ist die Direktorin der Europäischen Zone der Internationalen Föderation von Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC). Sie ist zuständig für 52 nationale Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften. In der Studie "Anders denken", die am Donnerstag (10.10.2013) herausgekommen ist, warnen die Gesellschaften, dass Europas Reaktion auf die Wirtschaftskrise den Kontinent in den sozialen und wirtschaftlichen Abstieg führen wird.