Ungarn-Ukraine: Orban in Erklärungsnot
25. Februar 2022Kein EU-Regierungschef pflegt ein so enges und treues Verhältnis zum russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin wie Ungarns Premier Viktor Orban. Seit 2009 trafen sich die beiden Staatsmänner fast in jedem Jahr. So auch vor wenigen Wochen. Ungeachtet der bereits eskalierenden Ukraine-Krise reiste Orban Anfang Februar nach Moskau und machte Putin eine artige, ehrerbietige Aufwartung. "Friedensmission" nannte Ungarns Regierungschef das.
Auf einer Pressekonferenz mit Wladimir Putin ließ Orban sich über die Nutzlosigkeit der EU-Sanktionen gegen Russland aus. Er lobte das ungarisch-russische Kooperationsmodell und empfahl es auch allen anderen EU-Staaten. Zuvor hatte Russlands Präsident Ungarn einen günstigen Gasliefervertrag gewährt.
Angesichts des von Putin befohlenen Krieges gegen die Ukraine kommen Orban und seine Regierung nun in Erklärungsnöte und diplomatische Zwickmühlen. Nach dem Beginn des russischen Überfalls herrschte in der ungarischen Führung erst einmal Sprachlosigkeit. Ungarn war einen halben Tag lang das einzige EU-Land, das die russische Aggression und den Einmarsch in die Ukraine mit keinem Wort verurteilte und auch das Wort Krieg nicht verwendete.
Erst am Donnerstag nachmittag (24.02.2022) konnte sich Viktor Orban zu Worten der Verurteilung durchringen. In einem Video auf seiner Facebook-Seite sagte er: "Russland hat die Ukraine mit militärischer Gewalt angegriffen. Gemeinsam mit unseren EU- und NATO-Bündnispartnern verurteilen wir das militärische Vorgehen Russlands." Worte wie Krieg oder Aggression mochte er jedoch immer noch nicht verwenden.
"Mutlos und nicht sehr deutlich"
"Die Stellungnahmen der ungarischen Diplomatie sind sehr widersprüchlich", sagt der ungarische Politologe Peter Kreko, Direktor des Budapester Think Tanks Political Capital und Fellow am Zentrum für Europäische Politikanalyse (CEPA), der DW. "Die Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine kam spät, sie war mutlos und nicht sehr deutlich." Die neuen EU-Sanktionen gegen Russland unterstütze Ungarn nur in "minimalistischer Weise", so Kreko. Hinzu komme, sagt der Politologe, dass regierungsnahe Medien in Ungarn und Regierungspolitiker zunehmend russlandfreundliche Narrative verbreiten und gegen die NATO und den Westen hetzen würden.
Tatsächlich hatte Ungarns Verteidigungsminister Tibor Benkö im ungarischen Fernsehsender ATV am Mittwoch (23.02.2022) noch davon gesprochen, dass Russland nicht so gehandelt habe, wie viele es darstellen würden. Russland habe die Ukraine nicht angegriffen, sondern sei "auf Bitten der neu gebildeten Volksrepubliken auf deren Gebiet eingerückt" und versehe dort "Aufgaben zur Friedenserhaltung". Falls die Ukraine diese Volksrepubliken angreife, sei das auch ein Angriff auf Russland; darin bestehe die Kriegsgefahr.
Nur wenig später hatte Viktor Orban die Linie ausgegeben, dass Ungarn sich von dem Konflikt fernhalte, denn das Wichtigste sei die Sicherheit der ungarischen Bürger - eine Sprachregelung, die er seither mehrfach wiederholt hat, unter anderem mit dem Zusatz, dass Ungarns Energie- und Gasversorgung gesichert sei.
Allein in der Region
Orban hat sich mit dieser Position in der EU und auch bei bisherigen Verbündeten in Mittel- und Südosteuropa weitgehend isoliert. Der tschechische Präsident Milos Zeman, seit vielen Jahren konsequent Putin-freundlich, vollzog wenige Stunden nach dem russischen Überfall auf die Ukraine eine radikale und auch selbstkritische Wende. Er gab zu, dass er sich mit seiner Einschätzung, Putin werde die Ukraine nicht angreifen, geirrt habe, und sagte mit Blick auf den russischen Präsidenten wörtlich: "Der Verrückte muss isoliert werden."
Auch der slowenische Regierungschef Janez Jansa, ein enger Freund Orbans, nahm scharf gegen Russlands Präsidenten Stellung. Die gegenwärtigen Führungen Polens, der Slowakei und Rumäniens stehen dem Regime Wladimir Putins ohnehin kritisch gegenüber. Und selbst der bisher eher russlandfreundliche bulgarische Staatspräsident Rumen Radew verurteilte Putins Aggressionspolitik entschieden.
Grenzen für Flüchtlinge aus der Ukraine offen
Ungarns Premier begibt sich mit seiner Putin-freundlichen Politik auch innenpolitisch auf heikles Terrain. Derzeit ist in Ungarn Wahlkampf, am 3. April 2022 findet die Parlamentswahl statt - und erstmals steht ein Wahlsieg Orbans auf der Kippe. Eine große Mehrheit der Ungarn, darunter auch viele Wähler der Orban-Partei Fidesz, sieht den Kuschelkurs ihrer Landesführung mit Putin kritisch. Auch werden mit dem russischen Überfall Erinnerungen an den sowjetischen Einmarsch in Ungarn während der blutig niedergeschlagenen Revolution von 1956 wach.
Daher müssen Orban, seine Regierung und seine Partei ihre Haltung zum Krieg in der Ukraine genau abwägen. Das betrifft auch die Frage eines Massenansturms von Flüchtlingen aus der Ukraine. Anders als im Falle von Flüchtlingen aus dem Nahen und Mittleren Osten oder Afrika begegnen die meisten Ungarn Schutzsuchenden aus der Ukraine mit Sympathie und Hilfsbereitschaft - zumal in der Westukraine eine große ungarische Minderheit lebt. Daher hat Orban bereits in ungewohnter großzügiger Weise angekündigt, dass die Grenzen für alle ukrainischen Flüchtlinge offen seien.
Orbans Loyalität steht in Frage
Das ist eine der äußerst raren Fragen, über die es in der ungarischen Innenpolitik einen Konsens gibt. Jenseits dessen hat Ungarns vereinigte Opposition das Thema von Orbans Kuschelkurs mit Putin längst aufgegriffen. So etwa bezeichnet ihr Spitzenkandidat, der parteilose Peter Marki-Zay, Ungarns Premier als "wichtigsten Statthalter Putins in der EU und den größten Verräter des Westens".
Der Politologe Peter Kreko glaubt, dass Ungarn sich mit seiner Putin-freundlichen Außenpolitik und der wirtschaftlich motivierten, sogenannten "Öffnung nach Osten" des vergangenen Jahrzehnts in eine Sackgasse manövriert habe. "Gerade nach dem jüngsten Besuch Orbans in Moskau bestehen in den westlichen Bündnissen große Fragezeichen wegen seiner Loyalität", sagt Kreko. "Wenn Ungarn die neuen Sanktionen der EU gegen Russland glaubwürdig mitträgt, dann muss es wirtschaftliche Kooperationsprojekte wie den Ausbau des Atomkraftwerks Paks mit russischer Hilfe aufgeben."