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PolitikNahost

Ungewisse Zukunft: Kinder von IS-Eltern

Diana Hodali
5. Februar 2022

Im Hasaka-Gefängnis im Nordosten Syriens sind 700 Minderjährige in Haft. Der Grund: Ihre Eltern gelten als IS-Terroristen. Die Behörden haben Angst vor einer Radikalisierung der Kinder. Hilfsorganisationen sind besorgt.

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Syrien I Al-Hol Camp
Es sind immer noch Tausende IS-Frauen mit Kindern in den Camps - auch im Al-Hol Camp Bild: Maya Alleruzzo/AP Images/picture alliance

Etwa 20 minderjährige Jungen teilen sich jeweils eine Zelle im Ghwayran-Gefängnis in Hasaka im Nordosten Syriens. Nicht alle Räume haben Fenster, zu bestimmten Zeiten können die Kinder in einen separaten Innenhof, um frische Luft zu schnappen. Von der Gefängnisverwaltung werden sie mit Essen versorgt.

Etwa 700 minderjährige Jungen sitzen seit 2019 dort ein, weil sich ihre Eltern der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) angeschlossen haben. "In manchen Fällen sollen diese Kinder bereits in Vorfälle verwickelt gewesen sein. Andere, sagen die lokalen kurdischen Behörden, kämen aus radikalisierten Familien", berichtet Mehmet Balci von der Schweizer Menschenrechtsorganisation 'Fight for Humanity'.

Zu Beginn seien nur 150 Jungen in diesem Gefängnis gewesen, das kürzlich durch einen Aufstand von inhaftierten IS-Kämpfern in die Schlagzeilen geraten war. Später sei die Anzahl minderjähriger Insassen rasant gestiegen. In anderen Gefängnissen in der Region sollen bis zu 120 weitere Minderjährige untergebracht sein - Jungen, die offenbar auch in IS-Trainingscamps gewesen sind, so Balci.

Syrien Gefängnis in Hasaka
Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) haben das Gefängnis in Hasaka nach einem Aufstand wieder unter Kontrolle. Auch Minderjährige sind dort inhaftiert.Bild: AFP

Kinder und Terroristen auf einem Gelände

Das Gefängnis in Hasaka ist der größte Gefängniskomplex in der Region und untersteht der Aufsicht der kurdischen Selbstverwaltung im Norden des Landes. Das kurdisch angeführte Militärbündnis der "Syrischen Demokratischen Kräfte" (SDF) ist für die Sicherheit verantwortlich.

Mehrere Gebäude befinden sich auf dem Gelände, in denen neben den Minderjährigen auch 5000 IS-Terroristen untergebracht sind - getrennt voneinander. Es sind Räume, die einst Schulgebäude waren. Nur, dass die inhaftierten Jungen, die zwischen 12 und 18 Jahre alt sind, mindestens seit ihrer Inhaftierung keine Schulbildung mehr genossen haben. Die Haftbedingungen sind schlecht, die Sicherheitsvorkehrungen in den behelfsmäßigen Gefängnissen unzureichend.

Das zeigt auch der Versuch der Terrororganisation IS seit der Nacht vom 19. auf den 20. Januar, mit einem Angriff Tausende ihrer Kämpfer aus dem Gefängnis zu befreien. Ganze fünf Tage wurde das Gefängnis von IS-Terroristen kontrolliert, bis die SDF die Kontrolle zurückerlangten. In der Zeit nahmen die Terroristen Wärter und inhaftierte Minderjährige als Geiseln und exekutierten Gefängnispersonal - fast 200 Menschen wurden bei diesem Angriff getötet. Die IS-Terroristen hätten die Kinder auf diese Weise als Schutzschilde missbraucht, sagte ein Sprecher des Syrian Democratic Council (SDC), dem zivilen Flügel der kurdisch dominierten SDF. Angeblich sollen die Kinder inzwischen wenigstens wieder in Sicherheit sein. 

Syrien Gefängnisausbruch in der syrischen Hasaka
Fünf Tage hatte der sogenannte Islamische Staat das Hasaka-Gefängnis unter Kontrolle, fast 200 Menschen wurden dabei getötetBild: FADEL SENNA/AFP/Getty Images

Laut Augenzeugen auch Kinder getötet

Doch Letta Tayler, eine stellvertretende Direktorin bei Human Rights Watch twitterte, dass Augenzeugen zufolge auch einige der Kinder unter den Getöteten gewesen sein sollen. "Bis heute ist nicht klar, was mit einem Großteil dieser Minderjährigen passiert ist", sagt Syrien-Referentin Anita Starosta von der Organisation Medico International. "200 Jungen konnten im Zuge des Angriffs an einen extra Ort gebracht werden."

Seit Monaten unterstützt Medico gemeinsam mit Fight for Humanity lokale Hilfsorganisationen wie Purity dabei, die Unterbringung dieser Kinder zu verbessern und eine Perspektive für ein Leben ohne IS zu entwickeln. Doch derzeit können lediglich die 200 Jungen, die weggebracht wurden, notversorgt werden, so Starosta. Neben Grundversorgung hatten die Hilfsorganisationen ursprünglich sogar geplant, den Minderjährigen informell Schulunterricht anzubieten, sagt Mehmet Balci.

Balci, Gründer und Co-Direktor von Fight for Humanity hat das Gefängnis dreimal besucht. Im vergangenen Jahr startete die Organisation ein Projekt, um ihnen pädagogische und psychologische Unterstützung bieten zu können. Doch derzeit stehe diesbezüglich erst einmal alles still. Denn es dürfte wohl Wochen oder Monate dauern, bis die gesamte Situation vor Ort wieder sicher unter Kontrolle ist. 

Kinder könnten sich radikalisieren 

Der IS-Angriff hat das ungeklärte Schicksal der Kinder wieder stärker ins Bewusstsein gerückt. Hilfsorganisationen und Menschenrechtsaktivisten beklagen unisono, dass die inhaftierten Kinder für die Vergehen ihrer Eltern bestraft würden. Sie befürchten, dass die Haft zudem ihre Radikalisierung fördern könnte. "Wir fordern die Freilassung von Kindern aus dem Gefängnis. Die Inhaftierung von Kindern sollte nur als letztes Mittel und für die kürzest mögliche Zeit erfolgen", sagte kürzlich der Syrien-Experte von Unicef, Bo Viktor Nylund.

Doch die lokalen Sicherheitskräfte sehen in den Kindern eine potentielle Gefahr, weil sie teilweise militärische Trainings vom IS erhalten haben sollen. So könnten einige tatsächlich bereits bei Kämpfen mitgewirkt haben. Doch bisher ist nichts über die individuellen Hintergründe der Jungen bekannt. Zudem wurde bisher keiner der Jungen wegen eines Verbrechens angeklagt oder einem Richter vorgestellt.

"Diese Kinder sind in erster Linie Opfer des Konflikts, und deshalb sollten wir ihnen auch nicht mit einer Deradikalisierungs-Idee begegnen", sagt Mehmet Balci. "Man kann ihnen nicht vorwerfen, Terroristen zu sein oder radikalisiert zu sein - auch wenn sie möglicherweise von radikalen Islamisten erzogen wurden." Balci setzt sich dafür ein, dass die Kinder stattdessen Bildung und dadurch möglichst auch eine neue Lebensperspektive erhalten sollen.

Schweiz | Mehmet Balci von der Organisation Fighters for Humanity in Genf
Mehmet Balci, Co-Direktor von 'Fight for Humanity'Bild: Privat

Die Inhaftierung der Kinder war von der kurdischen Selbstverwaltung eigentlich nur als Übergangslösung gedacht. Als im März 2019 die regionalen Sicherheitskräfte in Zusammenarbeit mit der internationalen Anti-IS-Koalition bei der Schlacht von Baghouz am Euphrat das "Kalifat" des IS final zerschlugen, strömten tausende IS-Frauen mit ihren Kindern in die Flüchtlingslager Al-Hol und Roj. Unter ihnen waren auch hunderte Frauen und Kinder aus mehreren anderen Ländern, die bis heute in den Lagern ausharren. Die kurdischen Sicherheitskräfte inhaftierten gut 12.000 IS-Anhänger in Nordostsyrien, unter ihnen 4.000 IS-Terroristen aus verschiedenen Ländern, darunter auch Deutsche. Auch andere Nationalitäten sind vertreten.

Rücknahme von Terroristen gefordert 

Auch unter den 700 inhaftierten Minderjährigen sollen etwa 150 Kinder sein, die weder irakischer noch syrischer Abstammung sind. Vertreter der kurdischen Selbstverwaltung, der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) und der lokalen humanitären Akteure bitten seit jeher um internationale Unterstützung  - und auch gezielt um die Aufnahme von IS-Kämpfern und ihrer Familien in ihren jeweiligen Herkunftsländern. Aber das ist bisher nur in geringem Maße geschehen. Auch Deutschland hält sich weitgehend zurück, wenn es um die Rücknahme von IS-Terroristen geht. Nur vereinzelt gab es bislang Rückholverfahren für deutsche Frauen und Waisenkinder, denen immer ein langer Rechtsstreit vorausgegangen war, so Starosta.

Dabei sei es wichtig, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen, sagt Mehmet Balci. "Die Verantwortung liegt hier nicht nur bei den SDF."

Zivilisten bei US-Militäroperation in Syrien getötet
Bei der Militäroperation im syrischen Atmeh, bei der auch der IS-Anführer getötet wurde, kamen auch Zivilisten ums Leben Bild: Anas Alkharboutli/dpa/picture alliance

Denn klar ist auch: Der "Islamische Staat" hat mit seinem Angriff auf das Gefängnis gezeigt, dass er noch handlungsfähig ist. Und dass ihr Anführer Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraischi sich laut US-Angaben bei einem amerikanischen Angriff kürzlich selbst getötet haben soll, dürfte vorerst nur ein Etappensieg im Kampf gegen den Terror des IS in seiner Ursprungsregion sein. Die Ideologie wird dadurch nicht ausgelöscht. Gerade deswegen brauche die kurdische Selbstverwaltung Unterstützung, so Anita Starosta von Medico International. "Sollte es nicht gelingen, den Vormarsch des IS zu stoppen und den Radikalisierungsprozessen in den Flüchtlingslagern und Gefängnissen entgegenzuwirken, steht eine erneute kriegerische Eskalation bevor", sagt sie.

Perspektiven für die Kinder? 

Die inhaftierten Kinder können vorerst nur auf humanitäre Hilfe hoffen - sobald ein Zugang zum Gefängnis wieder möglich ist. Einen langfristigen Plan, wie mit ihnen umzugehen ist, gibt es nicht. "Wenn es uns gemeinsam mit unseren Partnern gelingt, unsere Arbeit mit den Kindern auf pädagogischer Ebene umzusetzen, sie vorzubereiten auf ein normales Leben, dann haben sie vielleicht eine Chance und eine Perspektive", sagt Starosta. "Sollten sie weiterhin einfach weggesperrt werden, weil es keine anderen Kapazitäten gibt, dann sind ihre Aussichten nicht so gut."

Die kurdische Selbstverwaltung hofft derweil weiter, dass neben den IS-Terroristen und den Frauen auch die Kinder von ihren Herkunftsländern zurückgeholt werden.