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Unterschätzte Gefahr durch Corona-Aerosole

8. Juli 2020

239 Forschende forderten von der WHO eine Aktualisierung der Corona-Leitlinien, da die Übertragung über feinste Schwebestoffe in der Luft nicht ausreichend berücksichtigt sei. Jetzt sieht auch die WHO die Gefahr.

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Mann beim Niesen
Bild: picture-alliance/dpa/PA/Jordan

Braucht es noch eine Maskenpflicht beim Einkaufen? Wann machen die Kneipen und Bars wieder auf? Was sollen die Abstandsregeln in Restaurants? Wann kann ich wieder sorglos fliegen?

Während viele europäische Länder nach - zumindest gefühlt - überstandener Corona-Krise auf eine möglichst schnelle Rückkehr zur Normalität drängen, schlagen 239 Forschende verschiedener Disziplinenim Fachjournal "Clinical Infectious Diseases" Alarm: Vor allem die Gesundheitsbehörden und die Weltgesundheitsorganisation WHO sollten das Risiko einer Übertragung durch sogenannte Aerosole viel ernster nehmen als bisher.

Schwebende Gefahr in geschlossenen Räumen

Aerosole sind feinste Schwebestoffe und Tröpfchen in der Luft, die kleiner als fünf Mikrometer sind. Beim Ausatmen, Sprechen, Lachen oder Singen verbreitet sich dieser feine Nebel im Raum. Die größeren Tropfen fallen schnell zu Boden, aber die feinsten Partikel können - vor allem in geschlossenen Räumen - noch stundenlang in der Luft schweben. 

Hält sich ein Infizierter in solch einem geschlossenen Raum auf, kann er in kürzester Zeit viele Andere anstecken - ohne dass er jemals direkten Kontakt zu ihnen hatte.

WHO überdenkt ihre Position

Als Reaktion auf den öffentlichen Appell ist nun auch die Weltgesundheitsorganisation zu einem Kurswechsel bereit. Bisher war die WHO vor allem von einer Tröpfcheninfektion ausgegangen.

Auch die WHO erkenne jetzt "sich abzeichnende Beweise" für die luftübertragene Ausbreitung des neuartigen Coronavirus an, so Maria Van Kerkhove, technische Leiterin für die COVID-19-Pandemie bei der WHO, in einem Pressegespräch. 

Auf Grundlage der neuen Einschätzung müssten in einem nächsten Schritt auch die Corona-Richtlinien der WHO entsprechend angepasst werden. Vor einem Monat hatte die WHO bereits ihre Einschätzung zu Schutzmasken revidieren müssen. 

Aerosole als wichtigster Übertragungsweg

Nach Ansicht der Forschenden zeigten Untersuchungen zur Influenza und auch zum Coronavirus MERS-CoV, dass sich die Viren vor allem über Aerosole verbreiten. "Wir haben allen Grund anzunehmen, dass SARS-CoV-2 sich ähnlich verhält und Aerosole ein entscheidender Übertragungsweg sind", heißt es in dem Appell, der überwiegend von Experten aus den Bereichen Chemie, Physik und Ingenieurwissenschaften, aber weniger von Virologen und Medizinern unterzeichnet wurde. 

Strassenszene währed der Corona-Zeit auf einer Party-Meile in new York
Jugendliche in New York feiern die Wiedereröffnung der Party-Meile - zumindest im FreienBild: Reuters/J. Moon

Die aktuellen Schutzmaßnahmen - Händewaschen, Maskenpflicht, Abstand halten - zielen primär auf eine mögliche Tröpfchen- und Schmierinfektion ab. Das alleine reiche aber nicht. Auf eine Aerosolübertragung würde bislang nur unzureichend hingewiesen, argumentieren die Forschenden.

Regelmäßiges Lüften hilft

Deshalb fordern die Autoren des Appells eine regelmäßige und effektive Raumbelüftung mit Frischluft von Außen. Eine Luftzirkulation solle vermieden werden - vor allem in öffentlichen Gebäuden, Schulen, Arbeitsstätten, Krankenhäusern und Altenheimen. Bestehende Belüftungssysteme sollten um Absaug- und Luftfilterungssysteme und/oder keimtötendes, ultraviolettes Licht erweitert werden.

Vor allem aber sollten überfüllte Räume und Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen vermieden werden, das gelte nicht nur für Bars oder Clubs, sondern auch für öffentliche Gebäude und Verkehrsmittel.

Indizien sprechen für Neueinschätzung

Plötzlich gehäufte Corona-Infektionen nach Bar- oder Restaurantbesuchen, aber auch nach Chorauftritten zeigen, dass die Infektionen wahrscheinlich durch Aerosole in der Raumluft übertragen wurden, so auch der nicht am Appell beteiligte Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin der München Klinik Schwabing, Prof. Dr. Clemens Wendtner.  

Deutschland | Rund 400 Corona-Infektionen in Schlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück
Führte die "mehrfache Zirkulation von ungefilterter Kühlluft" in Schlachtbetrieben zu den gehäuften Corona-Infektionen?Bild: picture-alliance/dpa/B. Thissen

Möglicherweise führte auch die "mehrfache Zirkulation von ungefilterter Kühlluft" in Schlachtbetrieben zu den dort gehäuft aufgetretenen  Corona-Infektionen, so Wendtner. Der Mediziner hält die im Appell vorgeschlagenen Belüftungsmaßnahmen für sinnvoll und hatte von der WHO einen Kurswechsel gefordert.  

"Angesichts immer noch steigender globaler Infektionszahlen bei gleichzeitiger Umsetzung von Lockerungsmaßnahmen in manchen Ländern wäre ein Aufruf der WHO zum Schutz vor SARS-CoV-2-haltigen Aerosolen wünschenswert und aus wissenschaftlicher Sicht dringend geboten", so Prof. Dr. Wendtner. 

Verhalten an neue Erkenntnisse anpassen

Zu Beginn der Epidemie sei die Übertragung über Oberflächen "wohl etwas überschätzt" worden, so die nicht am Appell beteiligte Professorin für Infektionskrankheiten an der Universität Genf Dr. Isabella Eckerle.

Dagegen sei die Übertragung durch die Nähe zu Erkrankten (Familienfeiern, Chorprobe, Sportstudio) über die Raumluft etwas unterschätzt worden."Ich denke, die bisherige sehr strenge Unterscheidung in entweder Aerosol- oder Tröpfcheninfektion ist nicht ausreichend, um alle Transmissions-Szenarien abzudecken."

Das Coronavirus sei kein klassischer Aerosol-übertragener Erreger wie Masern oder Windpocken, so Eckerle. "Ein solches Szenario ist bei SARS-CoV-2 nicht anzunehmen."

Spezialmasken für alle sind auch keine Lösung

Zwar könnten professionelle FFP3-Filtermasken eine Aerosol-Ansteckung verhindern, aber eine Empfehlung für diese Art von Masken in der Bevölkerung sei nach Ansicht der Expertin weder "sinnvoll" noch "umsetzbar". 

"Ich glaube, man muss pragmatisch vorgehen und das Wissen, das wir derzeit über den Erreger haben, in sinnvolle, umsetzbare Empfehlungen übersetzen. Entsprechend sollten vor allem Superspreading-Events  in geschlossenen Räumen verhindert werden", so die Professorin für Infektionskrankheiten an der Universität Genf. 

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund