Wirtschaftlicher Zerfall
3. November 20062,3 Milliarden US-Dollar strich Bechtel Corp. für seine Wiederaufbauhilfe im Irak in den vergangen drei Jahren von der US-Regierung ein. Dieser betriebswirtschaftlichen Bilanz steht eine "menschliche Verlustbilanz" von 52 ermordeten und 49 verwundeten Bechtel-Mitarbeitern gegenüber. Am Donnerstagabend (2.11.) gab das größte US-Bauunternehmen bekannt, es werde keine weiteren Aufträge zum Wiederaufbau des Iraks mehr übernehmen.
Die Firma mit Sitz in San Francisco hatte sich über drei Jahre lang um den Wiederaufbau der Infrastruktur, der Straßen, Brücken, Wasserversorgung, Krankenhäuser und des Stromnetzes im Irak gekümmert. Zu Hochzeiten beschäftigte Bechtel mehr als 40.000 Arbeiter, zumeist Iraker, in dem vom Krieg zerstörten Land.
Sicherheit geht vor Wirtschaftlichkeit
Es sei "herzzerreißend", wie sich die sicherheitspolitische Lage im Irak verschlechtert hätte, betont Cliff Mumm, Leiter der Bechtel-Abteilung für Infrastrukturmaßnahmen. In der Tat sehen optimale Rahmenbedingungen für unternehmerisches Engagement wohl anders aus. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass ein Anschlag auf Zivilisten oder US-Soldaten verübt wird. So starben allein im Oktober 104 US-Soldaten im Irak. Die US-Armeeführung befürchtet ein immer stärkeres Abdriften des Irak in Gewalt und Chaos. US-Geheimdienste sähen das Land auf dem Weg in einen Bürgerkrieg, schrieb die "New York Times" am Mittwoch (1.11.) unter Verweis auf ein geheimes Treffen mit Militärs.
Ex-US-Präsident Bill Clinton meinte zwar, es käme zuvorderst auf die Wirtschaft an. Für den Irak gilt aber offenbar eher die Regel: "It's the security, stupid!" - ohne Sicherheit kein wirtschaftlicher Wiederaufbau. Auch Felix Neugart, Irak-Experte des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), betont: Nur eine verbesserte Sicherheitslage und ein stabiler politischer Prozess könnten eine Wende bewirken und den Unternehmern die sicheren Rahmenbedingungen geben, die sie brauchen.
Ungenutztes Potenzial
Denn eigentlich hat der Irak ein großes wirtschaftliches Potenzial: "Angesichts der großen Ölvorräte und der Tatsache, dass es in allen Wirtschaftsbereichen einen großen Nachholbedarf gibt, ist der Irak nach wie vor ein attraktives Ziel für Unternehmer - theoretisch", sagt Neugart.
Praktisch trifft dies aber nur auf den Nord- und Südirak zu. Das sunnitische Kernland verfügt dagegen kaum über natürliche Ressourcen. Zugleich finden im Zentralirak auch die meisten Terroranschläge statt. "Dort sind die gesamten Wiederaufbauaktivitäten zum Erliegen gekommen", sagt Christian-Peter Hanelt, Irak-Experte der Bertelsmann-Stiftung. Im Norden und Süden seien dagegen "relative Inseln der Sicherheit und des Wohlstands" entstanden, wo der Handel floriere und der Wiederaufbau organisiert vorangetrieben werde.
Zentralirak: "Zentrum des Terrors"
Dabei verläuft die Aufteilung des Iraks in drei größere Wirtschaftsräume entlang ethnisch-religiöser Linien: Während in den drei kurdischen Nordprovinzen ein eigener Wirtschaftraum entstanden ist, pflegt der schiitische Süden intensive wirtschaftliche Beziehungen mit dem Iran. Der Zentralirak wiederum unterhält enge Handelsverbindungen mit Jordanien und Saudi-Arabien.
Wirtschaftlicher und politischer Zerfall des Irak scheinen sich gegenseitig zu bedingen. Experten befürchten, dass diese Abwärtsspirale jetzt noch weiter beschleunigt werden könnte. Denn Anfang Oktober verabschiedete das irakische Parlament ein Gesetz, das den Zusammenschluss mehrerer Provinzen möglich macht. Der Irak könnte in zwei relativ ruhige, sichere Großbundesstaaten im Norden und im Süden und in ein Zentrum des Terrors zerfallen, prognostiziert Irak-Experte Hanelt.
"Solange die US-Armee und die Zentralregierung nicht in der Lage sind, für Sicherheit zu sorgen, fliehen die Eliten des Landes aus dem Zentralirak und die Wirtschaft bricht zusammen", sagt Hanelt. "Das führt wiederum dazu, dass die Bevölkerung Zuflucht bei lokalen Milizen und Terrororganisationen sucht. Ein Teufelskreis. "