Die humanitäre Krise als politischer Spielball
6. Februar 2019In Venezuela beanspruchen sowohl der der amtierende Staatschef Nicolás Maduro als auch der selbsternannte Interimspräsident Juan Guaidó die Macht für sich. Guaidó kann sich der Unterstützung der USA und zahlreicher europäischer Staaten sicher sein, während Maduro unter anderem Russland und China und bislang auch das venezolanische Militär hinter sich hat. Nun droht die Auseinandersetzung um die im Land dringend benötigten Hilfslieferungen zum Schauplatz für den Machtkampf zu werden. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten in Venezuela ist katastrophal.
"Abgesehen davon, dass es gerade in Venezuela sehr schwer ist, regelmäßig Lebensmittel zu bekommen, schockiert mich am meisten der totale Zusammenbruch der öffentlichen Krankenhäuser", erzählt der Ökonom Pablo Rafael González im Gespräch mit der DW. "In Venezuela durchleben wir eine beispiellose humanitäre Krise, die unter anderem dazu führt, dass es keine Medikamente gibt, weil schon unter der Regierung von Hugo Chávez die nationale Pharmaindustrie kaputtgemacht wurde. Auch Mediziner und Pflegekräfte gibt es kaum noch, weil die meisten das Land verlassen haben, zusammen mit mehr als drei Millionen Flüchtlingen", so González. "Und selbst wenn es noch Krankenhäuser gibt, die den Betrieb aufrechterhalten - die Menschen haben kein Geld, um die Kosten einer Behandlung zu bezahlen. Denn für sechs Dollar, dem Gegenwert des monatlichen Mindestlohnes in der Landeswährung Bolivar, bekommt man nicht einmal ein Kilo Käse."
Maduro: Es gibt keine humanitäre Krise
Solche Darstellungen bezeichnet der amtierende Staatschef Maduro regelmäßig als Lügen. Erst in dieser Woche antwortete Maduro in einem Interview mit dem spanischen Fernsehsender LaSexta auf die Frage, ob er für die humanitäre Krise in seinem Land verantwortlich sei: "In Venezuela gibt es keine humanitäre Krise. Viele Menschen wurden in dieser Hinsicht belogen."
Eine von mehreren venezolanischen Universitäten durchgeführte Umfrage über die Lebensbedingungen in Venezuela widerlegt Maduro: Demnach verloren 64 Prozent der Befragten 2017 aufgrund des fehlenden Zugangs zu Lebensmitteln durchschnittlich elf Kilo Gewicht. Das Bestehen einer humanitären Krise zuzugeben, wäre für Maduro jedoch gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, als Regierungschef versagt zu haben.
Gleichzeitig kann kein Land und keine internationale Organisation einem anderen Staat unaufgefordert Hilfe aufzwingen. Doch nun hat der selbsternannte Interimspräsident Guaidó die internationale Gemeinschaft um Hilfe gebeten.
"Ich habe dem Übergangspräsidenten Guaidó bestätigt, dass [die kolumbianische Grenzstadt] Cúcuta eines der drei Sammelzentren für die humanitäre Hilfe für Venezuela sein wird. Wir werden Hilfsgüter, Medikamente, Lebensmittel und alles andere haben, was unser brüderliches Nachbarland braucht", schrieb der kolumbianische Präsident Iván Duque beim Kurznachrichtendienst Twitter.
Das Militär in der Zwickmühle
Beobachter halten die zugesagten Hilfslieferungen aus dem Ausland für einen kalkulierten Schachzug. "Die Strategie der Staaten der sogenannten Lima-Gruppe aus 13 südamerikanischen Staaten und Kanada sowie der USA ist clever und dient einem doppelten Zweck", sagt Roberto Cajamarca, ehemaliger kolumbianischer Diplomat in Venezuela, der DW: "In erster Linie will man Menschen, die derzeit in akuter Lebensgefahr schweben, Patienten die eine Dialyse benötigen, Transplantationsempfängern, denen es an Immunsuppressiva mangelt oder Menschen, die stark unterernährt sind, darunter etwa 200.000 Kinder, Soforthilfe leisten."
Aber mit dieser Soforthilfe aus dem Ausland versuche man gleichzeitig, Druck auf die venezolanischen Streitkräfte auszuüben, so Cajamarca: "Wenn das venezolanische Militär die Hilfslieferungen hinein lässt, bedeutet dies Ungehorsam gegenüber den Befehlen von Präsident Maduro. Und wenn es die Lieferungen nicht ins Land lässt, muss das Militär erklären, warum es diese für die gesamte Bevölkerung dringend benötigte Hilfe blockiert." In genau diese Erklärungsnöte könnte das Militär nun schon bald kommen. Venezolanische Soldaten haben den Grenzübergang Las Tienditas bei Cúcuta - wohl auf Geheiß Maduros - bis auf weiteres für Hilfslieferungen gesperrt.
Wegen der Hilfslieferungen könnte es innerhalb der venezolanischen Streitkräfte zu einem Bruch kommen, glaubt Ex-Diplomat Cajamarca. Im äußersten Fall könnte es zu bewaffneten Zwischenfällen an der Grenze kommen, sobald die Medikamente und Lebensmittel da sind.
Deswegen wäre es seiner Ansicht nach besser, internationale Nichtregierungsorganisationen wie die Caritas und das Rote Kreuz würden die Verteilung der Hilfslieferungen übernehmen, anstatt bewaffneter Soldaten. Janeth Márquez, Direktorin von Caritas Venezuela, hat die venezolanischen Behörden schon aufgefordert, die Hilfslieferungen ins Land zu lassen.