Vergangenheitsbewältigung in China
22. April 2005Es ist eigentlich merkwürdig: Die jungen Chinesen sind in einer Zeit der chinesisch-japanischen Freundschaft aufgewachsen. Sie haben China im Krieg nicht erlebt, das sich von 1931 bis 1945 unter japanischer Besatzung befand. Stattdessen sind sie mit japanischem Spielzeug, japanischen Comic-Figuren, japanischen Fernsehserien und japanischen Computerspielen groß geworden. Woher kommt also so viel Hass? Ist es Hass auf eine fremde Vergangenheit?
Auch wenn der Krieg 60 Jahre zurück liegt, so sind doch die Gräueltaten der japanischen Truppen unvergessen. Zahlreiche Bücher, Spiel- und Dokumentarfilme, Museen, Gedenkstätten erinnern die Chinesen an die schmerzhafte Vergangenheit: 35 Millionen Chinesen starben im Krieg, teilweise auf grausamste Weise. Das Nanjing-Massaker ist das bekannteste – aber längst nicht das einzige. Systematisch vergewaltigten die Tenno-Truppen chinesische Frauen. Es gab medizinische Versuche an Menschen, Zwangsarbeit.
Löchriges Kollektivgedächtnis
Anders als ihre Eltern hat die junge chinesische Generation nicht viel unter dem Diktatorregime gelitten. Sie wurde in eine boomende Konsumgesellschaft mit neuen Freiheiten hineingeboren, nachdem Deng Xiaoping die Reform- und Öffnungspolitik einleitete. Die Kulturrevolution ist ihnen genauso fremd wie die Volkskommunen. Von den Ereignissen auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" von 1989 kennen sie allenfalls die parteiamtliche Version. Da die Kommunisten noch immer an der Macht sind, bleiben die düsteren Kapitel der Nachkriegsgeschichte verbogen. Kaum einer weiß etwas über den Einfall chinesischer Truppen 1979 in Vietnam. Chinas Einmischung in den koreanischen Krieg wird in Schulbüchern als "aufrichtig" charakterisiert. Von der katastrophalen Industriepolitik des "Großen Sprungs nach vorn" haben junge Leute ebenfalls wenig Ahnung.
Kollektivgedächtnis wird in China ausgesiebt. Dahinter steckt das Kalkül der Spitzenpolitiker: Der Hass auf den alten Feind aus Japan schafft ein Ventil für politische Unzufriedenheit. Die Studentenproteste im Frühsommer 1989 gaben dem kommunistischen Regime eine bittere Lektion: Ideologische Liberalisierung könnte gefährlich sein. Seitdem gilt "Die Geschichte der chinesischen Revolution" als Pflichtkurs für alle Schüler und Studenten. Zum Einstieg in die Universität müssen die Erstsemester sogar an einer militärischen Ausbildung teilnehmen.
Erfolg der Patriotismus-Erziehung
All diese Maßnahmen dienen einem Zweck: der Patriotismus-Erziehung. Da China eine Kriegsgeschichte voller Tränen und Blut hinter sich hat, sollten Chinesen den heutigen Frieden und die Stabilität besonders schätzen, lautet das Ziel. Die heißblütigen Patrioten ziehen daraus den Schluss: China müsse sich verstärken und nie wieder von anderen erniedrigt werden.
Die Patriotismus-Erziehung in China hat großen Erfolg: Deutlich zeigt sich dieser wachsende Nationalismus in den anti-japanischen Hasswellen. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und Japan sind besser als je zuvor. Das ändert jedoch nichts daran, dass viele alte Wunden wieder aufgeplatzt sind. Und die japanische Regierung streut regelmäßig Salz in diese Wunden.
Wenn das Nanjing-Massaker im zugelassen Schulbuch als "Vorfall" beschrieben wird; wenn der Premierminister den Yasukuni-Schrein besucht, wo neben anderen auch japanische Kriegsverbrecher geehrt werden; wenn dieser und jener Minister versucht, den Aggressionskrieg als Befreiung vom westlich Kolonialismus zu verharmlosen; wenn ein rechtsradikaler Populist wie Shintaro Ishihara aus seinem Hass gegen China keinen Hehl macht und dennoch zum Gouverneur von Tokio gewählt wird – dann haben die Chinesen am Ende das Gefühl, dass das Schuldgefühl in Japan vage bleibt.