Überfüllte Zellen, willkürliche Festnahmen
5. Februar 2021"Nummer 15! Wer ist die Nummer 15?” ruft eine Frau in der Warteschlange. Dampfende Atemluft steigt aus ihrem Mund. Es sind minus zehn Grad draußen, doch wenn man schon seit Stunden ansteht, fühlen sie sich an wie minus 20. Dutzende Menschen warten hier, vor dem Eingang der Justizvollzugsanstalt in Sacharowo. Seit sechs Uhr morgens versuchen sie, ihren Freunden und Verwandten hinter dem Stacheldrahtzaun zu helfen. Denjenigen, die bei den Protesten der vergangenen Tage in Moskau verhaftet wurden.
Erinnerung an Stalin-Zeiten?
Zu den Festgenommenen gehört auch Swetlana Wasser. Die Moskauerin hatte am 31. Januar für die Freilassung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny demonstriert. Ihr WG-Nachbar Hermann, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen möchte, steht nun hier, um ihr Lebensmittel, Hygieneprodukte und warme Decken zu bringen. Alles eingepackt in zwei Plastiktüten. "Was hier passiert, erinnert mich an Stalin-Zeiten", regt sich der 29-jährige auf. Seine WG-Nachbarin, berichtet er, sei zu fünf Tagen Gefängnis verurteilt worden, nur dafür, dass sie sich in der Nähe des Gefängnisses aufhielt, in dem Nawalny in Untersuchungshaft saß. "Wir wissen nicht, ob Swetlana und die anderen dort überhaupt etwas zum Zudecken haben", berichtet Hermann gegenüber der DW. "Was hier passiert, erinnert mich an die Zeiten des Roten Terrors von Stalin. Das ist schrecklich."
Die Gefängniswärter nähmen nur alle 40 Minuten ein Paket an, beschwert sich Hermann. Jede Tüte wird intensiv durchsucht. Dabei bräuchten die meist jungen Menschen hinter Gittern vor allem warme Sachen, erzählen ihre Verwandten vor dem Eingang. Mittlerweile kennen sie die Bilder aus den Zellen, die die Inhaftierten im Internet gepostet haben. Bilder von menschenunwürdigen Zuständen, in denen sie untergebracht sind: überfüllte Zellen mit kahlen Metall-Betten, die sich mehrere Personen teilen müssen, ohne Matratzen oder Bettwäsche, dazu ein Plumpsklo ohne Trennwand mitten in der Zelle. Corona-Masken gibt es nicht. Abstandsregeln? Unmöglich einzuhalten. Einblicke ins russische Gefängnisleben, die jetzt über soziale Netzwerke um die Welt gehen.
Auch zufällige Passanten wurden festgenommen
Manche der Insassen sind bereits verurteilt, andere warten noch auf ihr Strafmaß. Sie alle hatten es gewagt, sich gegen den Staat aufzulehnen. Fast alle, denn unter ihnen sind auch Menschen, die nur zufällig in der Nähe der Proteste waren und ebenfalls festgenommen wurden. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Auch sie sitzen jetzt in überfüllten Gefängniszellen in Sacharowo - einem südwestlichen Vorort von Moskau.
Mehr als 7.000 Menschen wurden nach Medienberichten in den vergangenen zwei Wochen in Russland verhaftet. Besonders brutal ging die Polizei bei den letzten Protesten in Moskau und Sankt Petersburg vor. Manchmal zerrten die Sicherheitsbeamten Menschen ohne ersichtlichen Grund in die Polizeibusse. Die Behörden argumentieren, dass die Proteste nicht genehmigt waren und darum eine Gefahr für die Sicherheit darstellten. In Wirklichkeit wurden aber die Beamten selbst teilweise zu einer Gefahr für die Sicherheit - für manche unschuldige Passanten.
"Bitte helfen Sie mir, meinen Sohn zu finden!", schreibt Lyusine Khachatryan in einem Messenger-Chat für Betroffene. "Sein Name steht auf keiner der Inhaftierten-Listen". Ihr Sohn, der 25-jährige Grant, wurde am 2. Februar im Zentrum von Moskau festgenommen. Zuvor hatte er sich mit einem Freund in einer Bar getroffen. Die Mutter rief an und warnte, die Stadt sei voller Bereitschaftspolizisten, und die U-Bahn-Stationen seien abgeriegelt worden. Nach einiger Zeit schrieb der junge Mann, er sei auf eine Polizeistation im Moskauer Osten gebracht worden. Es gab einen kurzen Gerichtsprozess und die Strafe - zehn Tage Haft.
Überfüllte Polizeibusse
"Mein Sohn wurde in einem Polizeibus nach Sacharowo gebracht. Erst hatte ich Kontakt zu ihm, dann meldete er sich plötzlich nicht mehr zurück" – erzählt Lyusine Khachatryan der DW am Telefon. Das Letzte, was ihr Sohn Grant auf Instagram gepostet hätte, sei ein Foto aus einem überfüllten Polizeibus gewesen. Darin habe es kaum Luft zum Atmen gegeben, beschwerte sich Grant.
Lyusine Khachatryan selbst kann nicht nach Sacharowo fahren, weil sie kein Auto hat und ihre Tochter zur Schule bringen muss. "Mein Sohn war schockiert. Er wurde noch nie verhaftet. Er hat in den USA studiert, kam aber zurück nach Russland, weil er seine Heimat liebt. Jetzt überlegt er sich, Russland für immer zu verlassen," weint Frau Khachatryan am Telefon.
Ein Video im Netz sorgt derzeit für Aufsehen. Darin sind junge Menschen zu sehen, im Dunkeln seit Stunden zusammengepfercht in einem Polizeibus. Ein junger Mann erzählt, dass er nach seiner Festnahme bis zu zwölf Stunden im Gerichtsgebäude bleiben und auf dem Fußboden schlafen musste. Ein weiterer Mann beschwert sich über die Enge und die stickige Luft. Er erzählt, dass er schon seit sieben Stunden im Polizeibus festsitze, weil im Gefängnis kein Platz mehr frei sei.
Solidarität auch unter Nicht-Nawalny-Anhängern
Auch die 25-jährige Amaya steht in der Kälte vor dem Gefängnis in Sacharowo. Sie selbst hat keine Bekannten oder Verwandten hinter Gittern. Amaya kommt aus Podolsk, ganz in der Nähe von Sacharowo, und hatte mit den Nawalny-Protesten selbst nichts zu tun. "Erst wollte ich nur den Menschen helfen, die hier draußen den ganzen Tag frieren und deren Pakete immer noch nicht angenommen wurden. Ich bot ihnen an, bei mir zu übernachten," erzählt sie der DW. "Die Leute standen in der Kälte und suchten nach einem Schlafplatz, um am nächsten Tag in aller Frühe wieder einen der ersten Plätze in der Schlange zu bekommen. Dann schickten mir andere Leute aus Moskau per Kurier Sachen für ihre Inhaftierten und baten mich, selbst anzustehen, weil sie selbst nicht herkommen konnten."
Jetzt friert Amaya für die anderen, seit zwölf Stunden schon: "Natürlich macht mir das, was gerade passiert, Angst. Das ist alles so surreal. Wir wissen nicht, wohin das Ganze führen soll. Aber ich stehe hier nicht für Nawalny an oder für irgendeinen anderen politischen Führer. Ich stehe hier für ein besseres, freies Leben, für eine gute Zukunft in Russland."
Vor dem Gefängnis in Sacharowo ist es inzwischen Abend geworden. Die Schlange hat sich kaum bewegt. Hermanns Tüten stehen noch immer im Schnee. Er hat es nicht geschafft, seiner WG-Nachbarin Swetlana warme Sachen zukommen zu lassen. Traurig packt er alles zusammen. Wie viele andere will auch er morgen wiederkommen.