Videos sollen Boeing-Abschuss zeigen
10. Januar 2020Bundesaußenminister Heiko Maas forderte größtmögliche Transparenz bei der Aufklärung des Unglücks. Es sollte nichts unter den Tisch gekehrt werden, sagte Maas in einem TV-Interview. Ähnlich äußerte sich Regierungssprecher Steffen Seibert. Bei den Ermittlungen müsse "alles in den Blick genommen werden - nicht nur ein technischer Defekt", sagte Seibert in Berlin. "Die Bundesregierung erwartet eine genaue Untersuchung der zuständigen Stellen des Iran in enger Zusammenarbeit mit den in der Hauptsache betroffenen Nationen."
Vier Menschen aus Deutschland unter den Opfern
Die meisten der 176 Passagiere, die bei dem Absturz der Ukraine-Airlines-Maschine ums Leben kamen, waren Iraner oder iranisch stämmige Kanadier, die über die Ukraine nach Kanada weiterreisen wollten. Die Boeing 737 war am Mittwoch auf dem Weg von Teheran nach Kiew unmittelbar nach dem Start abgestürzt. Inzwischen steht fest, dass bei dem Unglück auch vier Menschen aus Deutschland ums Leben kamen: Eine iranische Doktorandin aus Mainz und eine afghanische Frau aus Nordrhein-Westfalen mit ihren beiden Kindern. Die 30-Jährige war anerkannte Asylbewerberin, ihre Tochter war 8, ihr Sohn 5 Jahre alt.
Seibert begrüßte die Ankündigungen Teherans, auch Experten anderer Staaten in die Untersuchung der Unglücksursache einzubinden. Deutsche Experten stünden bereit, zu helfen, wenn dies gewünscht sei. Eigene Erkenntnisse habe die Bundesregierung derzeit keine, so Seibert.
Geheimdiensthinweise für Abschuss
Dagegen sprachen zunächst die Regierungen von Kanada und Großbritannien von konkreten Informationen, die auf einen versehentlichen Abschuss der Maschine durch eine iranische Boden-Luft-Rakete hinwiesen. Kanadas Ministerpräsident Justin Trudeau verwies auf Geheimdienstinformationen verschiedener Herkunft.Auch in den USA verfolgt man die Abschuss-Theorie. Ein US-Regierungsvertreter verwies auf Daten heimischer Satelliten. "Ich habe meinen Verdacht", sagte Präsident Donald Trump. "Jemand könnte einen Fehler gemacht haben." US-Außenminister Mike Pompeo sagte im Weißen Haus: "Wir glauben, dass es wahrscheinlich ist, dass dieses Flugzeug durch eine iranische Rakete abgeschossen wurde". Pompeo betonte aber, man müsse die Untersuchung abwarten.
Inzwischen halten es auch weitere Länder für plausibel, dass der Iran für den Absturz der ukrainischen Passagiermaschine verantwortlich ist. "Es ist tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass das Flugzeug von iranischen Raketen abgeschossen wurde", sagte der niederländische Außenminister Stef Blok vor einem Krisentreffen mit seinen europäischen Amtskollegen in Brüssel. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn sprach von einen versehentlichen Raketenbeschuss. "Es sind mutwillig 176 Leben vernichtet worden", sagte Asselborn. Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg unterstützt die Annahme, der Iran habe das Passagierflugzeug abgeschossen. Es gebe keinen Grund, den Berichten mehrerer NATO-Partner nicht zu glauben, sagte Stoltenberg am Rande des Krisentreffens. Nun brauche es gründliche Ermittlungen. Dafür sei es besonders wichtig, dass der Iran sich an diesen Untersuchungen beteilige.
Nach Einschätzung der "New York Times" stärkt ein im Internet kursierendes Video die These eines Raketenbeschusses. "Das von der 'New York Times' verifizierte Video scheint eine iranische Rakete zu zeigen, die ein Flugzeug in der Nähe von Teherans Airport triff", schrieb das Blatt in seiner Onlineausgabe. Es verweist zudem auf andere im Internet kursierende Videos, die das Blatt verifiziert haben will.
Von der Regierung in Teheran wird die Echtheit der Videos jedoch angezweifelt. Die Aufnahmen könnten nicht verifiziert werden, sagte der Chef der Behörde für die zivile Luftfahrt (CAO), Ali Abedsadeh. Spekulationen über einen Abschuss wies er als absurd und haltlos zurück. "Eines ist sicher, dieses Flugzeug wurde nicht von einer Rakete getroffen", sagte er auf einer Pressekonferenz in Teheran und warnte vor vorschnellen Schlussfolgerungen. Bevor ein Fazit gezogen werde, sollten zunächst die Fakten analysiert werden, forderte Abedsadeh.
Untersuchungen in Teheran haben begonnen
Iranische und ukrainische Experten hätten ihre Arbeit in einem Labor am Flughafen Mehrabad in der Hauptstadt Teheran aufgenommen, sagte Abedsadeh. Ihr Ziel sei die Auswertung der beiden schwer beschädigten Flugschreiber - des Flugdatenschreibers und des Aufzeichners der Geräusche in der Pilotenkanzel.
Laut Abedsadeh hat der Iran die technischen Möglichkeiten, die Informationen aus den Flugschreibern auszuwerten. Dies könne ein oder zwei Monate dauern. Mit der ukrainischen Seite sei vereinbart worden, bei Bedarf weitere Software und Geräte aus dem Ausland zu besorgen. Nötigenfalls könne sein Land die Daten aber auch nach Russland, Kanada oder Frankreich schicken, um Hilfe bei der Entschlüsselung zu erhalten. Es sollten alle technischen Möglichkeiten in Betracht gezogen werden, um die Absturzursache umgehend zu klären, versprach Abedsadeh.
Teheran lädt auch USA zu Untersuchungen ein
Die ukrainische Regierung verlangte ausdrücklich Beweise für die Abschussthese. "Unser Ziel ist es, die unstrittige Wahrheit herauszufinden", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew. Das sei auch die internationale Gemeinschaft den Familien der Opfer schuldig. An die Regierungen von Kanada, Großbritannien und den USA gerichtet sagte das Staatsoberhaupt weiter: "Wir rufen alle internationalen Partner dazu auf, der Ermittlungskommission Daten und Beweise zu vorzulegen, die die Katastrophe betreffen."
Der Sprecher der Regierung in Teheran, Ali Rabiei, erklärte, dass sein Land die Unterstützung aller relevanten Länder bei der Aufklärung des Absturzes begrüßen würde. Der Iran habe auch Boeing eingeladen, an den Untersuchungen teilzunehmen, sagte er laut Nachrichtenagentur Irna. Die US-Regierung solle bei der technischen Aufklärung der Absturzursache mithelfen, statt Lügen zu verbreiten und "Psychospielchen" zu betreiben.
Auch Frankreich und Schweden wollen ermitteln
Die US-amerikanische Behörde für Transportsicherheit in Washington erklärte ihre Bereitschaft, sich an der Untersuchung beteiligen zu wolle. Unklar ist jedoch, ob dies mit den US-Sanktionen gegen den Iran vereinbar ist. Auch die französische Regierung signalisierte Bereitschaft, mitzuwirken. Frankreich könne zur erforderlichen technischen Expertise beitragen, sagte Außenminister Jean-Yves Le Drain dem Rundfunksender RTL. Allerdings liege ihm bislang keine entsprechende Bitte der iranischen Regierung vor.
Auch die schwedische Regierung will an den Ermittlungen beteiligt werden, da bei dem Unglück auch mindestens 17 Menschen aus Schweden ums Leben kamen. Nach Angaben des Außenministeriums sind unter ihnen sieben Menschen mit schwedischer Staatsbürgerschaft sowie zehn, die im schwedischen Volksregister geführt sind. Das können zum Beispiel Menschen sein, die eine permanente Aufenthaltsgenehmigung in Schweden haben.
Als Reaktion auf das Unglück empfiehlt das Bundesluftfahrtamt deutschen Fluggesellschaften, den Luftraum Teheran zu meiden. Es sei allerdings kein Verbot ausgesprochen worden, sagt eine Sprecherin des Verkehrsministeriums. Die Lufthansa hatte bereits am Donnerstag ein Flugzeug auf dem Weg in die iranische Hauptstadt vorsorglich umkehren lassen. Die Flüge von und nach Teheran wurden ebenfalls gestrichen. Die Lufthansa-Tochter Austrian Airlines setzte ihre Flüge in die iranische Hauptstadt bis einschließlich 20. Januar aus. Auch die Airline Norwegian meidet vorerst den iranischen Luftraum.
ww/pg (afp, dpa, rtr)