"Vorwürfe gegen Rammstein keine Überraschung"
1. Juli 2023Ende Mai 2023 hat die Irin Shelby Lynn auf Twitter dem Frontmann von Rammstein, Till Lindemann, vorgeworfen, sie nach einem Konzert möglicherweise unter Drogen gesetzt zu haben. Seitdem reißen die Vorwürfe nicht ab, es geht um Drogen und Sex wider Willen, und es geht auch darum, dass Frauen offenbar gezielt für Sex rekrutiert worden sein sollen. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Die britischen Wissenschaftlerinnen Cassandra Jones, Emmaleena Käkelä und Kallia Mannousaki haben im März eine Studie veröffentlicht, in der sie von Frauenfeindlichkeit, Sexismus und Gewalt in der Musikindustrie berichten. Wir haben sie zum Zoom-Interview getroffen.
DW: Haben Sie die Vorwürfe gegen Till Lindemann, den Sänger der Band Rammstein, überrascht?
Kallia Manoussaki: Wenn es eine Überraschung gab, dann, wie organisiert und geplant das anscheinend ablief. Da gab es ja Helfer. Das hat mich wirklich verblüfft. Aber die Behauptung, dass ein Fan von einem Sänger sexuell angegriffen wurde, überraschte mich nicht.
Cassandra Jones: Wir haben für unser Projekt mit fast 500 Leuten gesprochen, die in der Musikindustrie arbeiten, den Crews zum Beispiel. Viele haben berichtet, dass sie auf Konzerten Frauen gezielt aussuchen, ansprechen und verfügbar machen sollten. Deswegen haben mich die Berichte über Rammstein nicht überrascht. So etwas passiert offenbar auch bei vielen anderen Bands und bei vielen anderen Sängern - weltweit.
Es gibt und gab immer schon - nicht nur in der Rock- und Popmusik, eigentlich in allen Genres - Gerüchte, Vorwürfe, manchmal auch Anzeigen oder Gerichtsverfahren wegen sexueller Übergriffe auf weibliche Fans oder Kolleginnen. Warum gab es bisher keine MeToo-Bewegung in der Musikszene?
Cassandra Jones: Ein Grund ist: Es wird den Frauen die Schuld für das gegeben, was passiert ist. Da wird gesagt: "Schau dir doch nur an, was sie trug, sie hat das doch herbeigeführt." In der Musikindustrie heißt es schnell: "Oh, sie ist zu einer Veranstaltung gegangen und hat getrunken. Was hat sie denn erwartet?" Da herrscht die Einstellung: Männer können nichts falsch machen, die Frauen sind selbst verantwortlich. Wenn wir von dieser Haltung wegkommen wollen, muss sich die Einstellung und das Bewusstsein innerhalb der Musikindustrie ändern, aber nicht nur hier, sondern in der gesamten Gesellschaft. Es gibt ein systemisches Problem. Es gibt in der Branche wenig Regulierung, wenige Mechanismen, um das endemische Ausmaß an sexueller Belästigung, sexueller Gewalt und allgemeinem Missbrauch zu bekämpfen. Dieser Mangel an Struktur in der Musikindustrie existiert überall, nicht nur in Großbritannien oder in Deutschland, das ist ein internationales Problem.
Was könnte helfen, was muss passieren?
Emmaleena Käkelä: Es geht darum, über die Art von Botschaften nachzudenken, die wir senden, um Vorwürfe zu entkräften und Frauen unter Druck zu setzen, die Gewalt und Missbrauch melden. Die Anwälte von Till Lindemann drohen jetzt denjenigen mit rechtlichen Schritten, die gegen ihn ausgesagt haben. Und die Botschaft, die das aussendet, ist: Wir glauben euch nicht, wir haben mehr Macht, wir haben mehr Ressourcen, wir sind unbesiegbar.
Was war der Anstoß für Ihre Untersuchung?
Cassandra Jones: Mein Partner arbeitet in der Musikindustrie, und als ich ihn kennenlernte, erzählte er mir schreckliche Geschichten darüber, wie es ist, in dieser Branche zu arbeiten. Mich hat schockiert, dass das offenbar für normal gehalten wurde, dass niemand darauf reagiert hat. Es hat eine Weile und viele Gespräche gedauert, bis ich mehr erfuhr. Viele Frauen setzten das Erlebte nicht mal mit sexueller Belästigung gleich. Deshalb habe ich Kontakt mit meinen Kolleginnen Emmaleena, Kallia und auch Melanie McCarry aufgenommen und wir haben dieses Projekt entwickelt.
Bei den aktuellen Vorwürfen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann reagieren viele Fans mit dem Argument, Groupies habe es schon immer gegeben. (Groupies werden diejenigen Frauen oder Mädchen genannt, die die Nähe von Rockstars suchen und alles dafür tun, mit ihnen im Bett zu landen, Anm. d. Red.). Was ist an diesem Bild dran?
Kallia Manoussaki: Das ist nichts anderes als ein Ausdruck von Frauenfeindlichkeit. Wir geben einem jungen Mädchen die Schuld, das von einer Berühmtheit besessen ist und kreischt, wie wir es von Bildern aus den 60er-Jahren kennen. Manche wurden ohnmächtig. Das sind ikonische Bilder. Ich glaube nicht, dass eines dieser jungen Mädchen jemals gedacht hätte, dass es verletzt werden könnte. Diese Schuldzuweisungen an die Opfer können von diesen so verinnerlicht werden, dass sie sich selbst die Schuld geben, verletzt oder sogar vergewaltigt worden zu sein. Aber auch, wenn ich mich hübsch mache, 17 bin, ein tolles Oberteil trage und mich wirklich attraktiv fühle, möchte ich nicht verletzt werden. Ich möchte einfach nur attraktiv sein. Und ich möchte auf keinen Fall, dass irgendjemand denkt, ich schulde ihm meinen Körper und meine Attraktivität. Wir können ja auch nicht einfach ein schönes Auto stehlen, bloß weil es uns gefällt. Und doch glauben wir, dass wir Frauen besitzen können. Die ganze Idee über Groupies ist also nur ein weiteres Beispiel für Victim-Blaming und Frauenfeindlichkeit.
Emmaleena Käkelä: Männliche und weibliche Fans werden völlig unterschiedlich gesehen. Frauen gelten nicht als glaubwürdige Fans und Konsumentinnen von Musik, sondern werden ständig sexualisiert und objektiviert. Und das gilt in der gesamten Musikindustrie, es gilt für Künstlerinnen, Managerinnen, Festivalbesucherinnen und so weiter. Daher denke ich, dass es sich um ein umfassenderes Problem handelt, das weit über das hinausgeht, was man meint, wenn man Frauen das Groupie-Etikett aufklebt.
Die Studie von Melanie McCarry, Emmaleena Käkelä, Cassandra Jones und Kallia Manoussaki wurde von der Royal Society of Edinburgh finanziert. Sie erschien im Frühjahr 2023 unter dem Titel "The sound of misogyny: sexual harassment and sexual violence in the music industry”.
Das Gespräch führte Sabine Kieselbach.