Italien verliert seine Jugend
3. März 2018Alba Di Tucci und Melania Reca brüten über Falldeklinationen, Zeitformen und Vokabellisten. 20 Stunden pro Woche lernen sie deutsch, so schnell wie möglich. Die beiden studierten Hebammen wollen weg aus Neapel, Italiens drittgrößter Stadt. Ihr Ziel: Deutschland, wo Fachkräfte wie sie händeringend gesucht werden. Die beiden Frauen sind so wie fast die Hälfte aller jungen Leute im Süden Italiens arbeitslos, und das trotz Studienabschlusses.
"Wir haben hier keine Chance"
"In Italien haben wir nichts gefunden. In dem Krankenhaus in Rom, wo wir das Praktikum für unser Studium gemacht haben, haben sie uns einen befristeten Vertrag für drei Monate angeboten. Und damit konnten wir uns zu den wenigen Glücklichen zählen, die überhaupt irgendetwas finden konnten", sagt Melania Reca. Einen Anschlussvertrag bekamen sie nicht. "Als wir dann angefangen haben, Bewerbungen nach Deutschland zu schicken, hatten wir sofort drei oder vier Angebote. Jedes Krankenhaus wollte uns haben."
Den laufenden Wahlkampf verfolgen die beiden Frauen nur am Rande. Von der Politik ernst genommen fühlen sie sich nicht. "Die Probleme, die junge Leute in Italien haben, gibt es seit Jahrzehnten und trotzdem interessiert sich kein Politiker dafür", sagt Reca. "Das System ist komplett verdorben", wirft Di Tucci ein. Arbeit würden nicht die Jungen finden, die das am meisten verdient hätten, sondern jene mit den besten Beziehungen. Besonders hart treffe es Studienabsolventen, die auf Jobs in einem öffentlichen Betrieb wie einem Krankenhaus hofften. Dort sind Stellenangebote auf Grund der Sparmaßnahmen der letzten Jahre besonders rar geworden. "Wir haben hier einfach keine Chance", sagt die 23-jährige Hebamme.
Keine neuen Ideen für alte Probleme
Für den Ökonomen Michele Mosca von der Universität Neapel sind Vetternwirtschaft und Sparmaßnahmen nur zwei Ursachen von vielen, weshalb viele junge Leute Italien verlassen. "Wir brauchen umfangreiche Reformen, vor allem im öffentlichen Bereich", so der Volkswirt. Viele Behörden und Ämter seien unterbesetzt, gleichzeitig seien die Arbeitsweisen sperrig, bürokratisch und veraltet. Als Beispiel nennt er den Universitätsbetrieb, wo Lehrpläne seit Jahren nicht mehr aktualisiert wurden und junge Leute nur mehr unzureichend auf die moderne Arbeitswelt vorbereitet werden würden.
Der private Sektor sei natürlich fortschrittlicher, so der Professor. Nur gäbe es da vor allem in Süditalien noch ein anderes Problem: kriminelle Organisationen, wie die Camorra hier in Neapel. "Die entscheiden leider oft, wer welches Unternehmen eröffnet und wer wo arbeitet. Das schreckt natürlich Investoren ab." Den Vorschlägen der verschiedenen Parteien im laufenden Wahlkampf zur Jugendarbeitslosigkeit kann Mosca nur wenig abgewinnen. "Vereinfacht gesagt, wollen alle Parteien Steuern und Abgaben senken, um die Beschäftigung anzukurbeln." Man müsste schon tief graben, um Unterschiede zu finden. Die Rechten wollen beispielsweise eine Einheitssteuer, während andere Parteien die Arbeitgeberbeiträge senken wollen.
Arbeitsmarktreformen der amtierenden Mitte-Links-Regierung, wie beispielsweise die Lockerung des Kündigungsschutzes, hätten in Neapel bislang gar keine Besserung gebracht, sagt der linke Bürgermeister der Stadt Luigi Di Magistris. "Wir brauchen mehr Solidarität, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Unterstützung im Kampf gegen die Korruption und die Mafia", so der ehemalige Staatsanwalt und Richter. Er könne als Lokalpolitiker nicht viel gegen die Massenarbeitslosigkeit der Jungen in seiner Stadt ausrichten. Mit zahlreichen Projekten im Kultursektor und Tourismus versuche er, so gut es geht dagegen zu steuern. Aber ohne Rückhalt in der Hauptstadt und den entsprechenden Initiativen auf nationaler Ebene wären keine großen Erfolge möglich.
In den aktuellen Umfragen liegt ein Wahlbündnis aus rechten Parteien vorne. Die beiden stärksten Parteien aus dem Schulterschluss sind Silvio Berlusconis konservative "Forza Italia" und die rechtspopulistische "Lega". Die beiden Kandidaten Antonio Pentangelo und Gianluca Cantalamessa gehen in dem Vorort Ercolano auf Stimmenfang. Hier, eingeklemmt zwischen dem Vesuv und dem Industriehafen von Neapel, dominieren heruntergekommene Plattenbauten, Tankstellen und leerstehende Läden das Straßenbild.
Migranten als Sündenböcke
"Es ist Wahnsinn, dass jedes Jahr über 170.000 Menschen Italien verlassen, um im Ausland eine Arbeit zu finden", sagt Cantalamessa, der Kandidat der "Lega". "Unser Land hat viel Geld in die Ausbildung dieser Personen gesteckt. Italien verliert mit ihnen auch Ressourcen, die wir hier bitter nötig hätten." Um der Abwanderung entgegen zu steuern will das Rechtsbündnis den Jungen finanziell länger unter die Arme greifen, so Pentangelo von der "Forza Italia".
Neben der aktuellen Mitte-Links-Regierung machen die beiden Kandidaten noch einen anderen zum Sündenbock für die wirtschaftliche Misere der italienischen Jugend: Migranten. "In der Schifffahrt gibt es immer mehr ausländische Arbeiter, die den gleichen Job für weniger Geld machen. Deswegen finden hier in der Region natürlich immer weniger junge Italiener Arbeit." Für den Bürgermeister Luigi Di Magistris ist das kein Argument. "Es ist komplett falsch, dass die Einwanderer den Italienern die Jobs wegnehmen. Außerdem ist es bewiesen, dass unsere Wirtschaft auch Dank der Einwanderer wieder wächst." Vielmehr müssten Vorurteile bekämpft werden.
Abwarten, was die neue Regierung bringt, wollen die Hebammen Melania Reca und Alba Di Tucci nicht. Am 1. Juni sollen sie im deutschen Witten, nahe Düsseldorf, ihre erste feste Stelle antreten. Den Arbeitsvertrag haben sie bereits unterschrieben. Bevor sie ihre Reise antreten, will nur Di Tucci zur Wahl gehen. "Meine Eltern stimmen für die Rechten und ein paar ihrer Argumente kann ich verstehen. Aber ich muss mich noch besser informieren, um zu wissen, wer für uns Jungen wirklich das Beste will." Ihre Studienkollegin Reca meint, wählen lohne sich nicht. "Das bringt doch alles nichts. Trotzdem hoffe ich, dass es eines Tages Italien wieder besser geht und ich zurück kommen kann. Neapel ist mein Zuhause, es wird mir in Deutschland furchtbar fehlen."