Schulz redet am Brandenburger Tor
15. September 2017"Begrüßen Sie mit mir den künftigen Bundeskanzler Martin Schulz!", animiert die Moderatorin das Publikum am Freitagnachmittag in Potsdam. Der Appell funktioniert: Die Leute applaudieren freundlich, manche jubeln. Vor allem jene rund 200, die sich in einem mit hüfthohen Gittern abgesperrten Bereich direkt vor der Bühne versammelt haben. Das ist der harte Kern, die sozialdemokratische Basis im Bundesland Brandenburg. Sie wedeln mit rot-weißen SPD und blau-gelben Europa-Fahnen. Auf einem Transparent steht "SPD Ludwigsfelde".
Hinter der Absperrung sind es vielleicht 300, die seit knapp eineinhalb Stunden auf Angela Merkels Herausforderer warten. Etliche von ihnen sitzen auf Holzbänken oder an kleinen Tischen vor Cafés in der Fußgängerzone am Brandenburger Tor. Ein solches gibt es nämlich auch in der Landeshauptstadt Brandenburgs. Es ist ein schöner Ort in einer schönen Stadt, die wegen ihrer Schlösser und Gärten - allen voran Sanssouci - Besucher aus aller Welt anzieht.
Ein Ort mit unfreiwilliger Symbolik
Apropos Sanssouci: Das aus dem Französischen stammende Worte bedeutet "sorglos" oder "unbekümmert". Die SPD und ihr Frontmann wären froh, wenn ihre Gemütslage entsprechend wäre. Doch davon kann beim besten Willen keine Rede sein. Am Donnerstag kam die Schreckensmeldung: Nur noch 20 Prozent würden laut "Deutschlandtrend" SPD wählen. Angesichts solcher Zahlen gut eine Woche vor der Bundestagswahl grenzt es an Realitätsverweigerung, noch vom Sieg zu träumen, auch wenn in einer heute veröffentlichten Umfrage des "Politbarometers" der Forschungsgruppe Wahlen die SPD wieder minimal aufholen kann.
Aber Schulz bleibt natürlich nichts anderes übrig, als Zuversicht zu verbreiten. Das fällt ihm anfangs auch deshalb schwer, weil es Probleme mit den Mikrofonen gibt. Der Kanzlerkandidat dringt nicht durch - es liegt etwas geradezu Symbolisches in dieser Szene. Als es endlich klappt, bedankt sich Schulz bei Klaus Staeck, "einem der großen politischen Künstler in Deutschland", für seine Unterstützung. Der Grafiker und Karikaturist sprach zu Beginn der Wahlkampf-Veranstaltung - gewissermaßen zum Aufwärmen.
"Wir für Martin" - prominente Initiative
Staeck gehört zu einer Gruppe Kunst- und Kulturschaffender, die sich für die SPD engagieren. "Wir für Martin" lautet ihr Motto. Es ist ein letzter, später Versuch, mit viel Prominenz das Ruder herumzureißen. "Willst Du den Schulz noch hören?", fragt eine Frau ihren Begleiter. Der will.
Ein anderes Pärchen diskutiert darüber, ob Schulz der richtige Kandidat ist. Er: "Schulz fehlt der Biss." Sie: "Ich hätte Steinmeier besser gefunden." Er: "Nee, der hat schon mal als Kanzlerkandidat verloren." Sie: "Ich finde, der hat als Außenminister sehr an Format gewonnen." Begeisterung für Schulz? Fehlanzeige. Zumindest bei diesen beiden.
Der vermeintlich chancenlose Merkel-Herausforderer hat aber natürlich auch viele Fans in Potsdam. Das ist immer dann zu spüren, wenn er sich mit Verve für die Belange der kleinen Leute einsetzt und das geschickt mit seiner eigenen Vita verknüpft. "Kann einer ohne Abitur Bundeskanzler werden?", habe er über sich lesen müssen. Oder: "Er hat den Charme eines Eisenbahnschaffners und die Aura eines Sparkassenangestellten."
"Was ist eigentlich an einem Eisenbahnschaffner schlecht?"
Ihm seien solche Beschreibungen egal, behauptet Schulz. Und wahrscheinlich stimmt es. "Aber was für eine Verachtung spricht eigentlich aus dieser Haltung?", fragt er mit empörter Stimme. "Was ist eigentlich an einem Eisenbahnschaffner schlecht? Was ist an einem Sparkassenangestellten schlecht?" Solche rhetorischen Fragen, die zugleich Antworten sind, lösen im Publikum den größten Beifall aus. Natürlich kommt auch Kritik an der Bundeskanzlerin gut an. "Die sagt ja nichts", spottet Schulz über seine Konkurrentin.
Dass er und seine SPD in allen Umfragen weit abgeschlagen hinter Merkels Union liegen, ficht ihn angeblich nicht an. Er kämpfe nicht für Meinungsforscher, sondern für seine Überzeugungen. "Und ich kämpfe für Sie, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes." Dafür, dass es in Deutschland gerecht zugehe, kämpfe er. Dass es der nächsten Generation gut gehe "und dass wir Europa stark machen und unsere Demokratie verteidigen".
Einer, der fühlt wie sein Parteichef
Diese Kampfansage des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments richtet sich gegen die Alternative für Deutschland (AfD), deren Spitzenkandidat Alexander Gauland in Potsdam wohnt und Fraktionschef im Brandenburger Landtag ist. Klare Kante gegen Rechts und ein Plädoyer für Europa - das kommt an. Besonders bei Benjamin Grimm.Den jungen Mann zieht es mit Anfang 30 in den Bundestag, als Kandidat im Wahlkreis 58 nördlich von Berlin. Der promovierte Jurist hat an der Europa-Universität Frankfurt/Oder und in Dublin studiert. Wie Schulz über Europa spreche, findet er "begeisternd".
Auch Familienvater Grimm, der sich besonders für bezahlbare Mieten und Kindertagesstätten einsetzen will, ist Umfragen gegenüber skeptisch. Er glaube, "dass wir noch was reißen können". So sieht es auch Karsten Peter Schröder. Er ist im Januar 1990 in die SPD eingetreten. Damals gab es die DDR noch, aber die Mauer war schon gefallen. Inzwischen ist er Geschäftsführer in seinem Kreisverband Oberhavel. "Schulz spricht den Menschen aus dem Herzen", sagt Schröder. Besonders freut sich Schröder darüber, dass Martin Schulz die "neuste Entgleisung" des AfD-Mannes Gauland kritisiert, die Deutschen dürften stolz sein "auf die Leistungen deutscher Soldaten" im Ersten und Zweiten Weltkrieg.
Abschied mit Victory-Zeichen
In den eigenen Reihen - so scheint es - erfreut sich Martin Schulz trotz entmutigender Umfragewerte weiterhin größter Beliebtheit. Doch ob das reicht, um Merkel und die Union auf der Zielgeraden im Bundestagswahlkampf noch zu stellen? In Potsdam will niemand etwas davon hören, dass die Wahl schon verloren sei. Jedenfalls nicht am kleinen Brandenburger Tor, wo die Genossinnen und Genossen ihrem Spitzenkandidaten zujubeln. Der winkt beim Abschied - und macht mit beiden Händen das Victoryzeichen. Dabei ist ein Sieg für die SPD wohl nur noch reine Illusion.