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PolitikPolen

Neue Töne und alte Rhetorik in Polens Parlament

Jacek Lepiarz (aus Warschau)
14. November 2023

Bei der konstituierenden Sitzung des polnischen Parlaments ist ein neuer Geist zu spüren. Der frisch gewählte Präsident des Sejm kündigt einen anderen Führungsstil und die Sanierung des Staats an - zum Ärger der PiS.

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Ein Mann geht am Gebäude des Sejm in Warschau vorbei. Zwei rot-weiße Fahnen schmücken das Gebäude am Tag der Parlamentseröffnung nach der Wahl vom 15.10.2023
Das neue Parlament ist am 13.11.2023 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengekommenBild: Kacper Pempel/REUTERS

Mit der Wahl ihres Kandidaten Szymon Holownia zum Parlamentsvorsitzenden hat die proeuropäische Mitte-Links-Koalition um Donald Tusk bekräftigt, dass sie eine solide Mehrheit im polnischen Parlament hat und den Anspruch auf die unverzügliche Machtübernahme erhebt. Bei der konstituierenden Sitzung des Abgeordnetenhauses Sejm am Montag (13.11.2023) in Warschau bekam Holownia 265 Stimmen, mehr als erwartet. Für seine Gegenkandidatin Elzbieta Witek von der noch regierenden national-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) stimmten 193 Parlamentarier.

Regierungsauftrag an Morawiecki

"Herr Staatspräsident, nach dieser Abstimmung soll niemand mehr daran zweifeln, dass es in diesem Parlament eine Mehrheit gibt, die bereit ist, die Verantwortung für das Land zu übernehmen", sagte Holownia nach der Wahl. Diese Worte richtete er an Polens Präsidenten Andrzej Duda. Der hatte trotz der klaren Mehrheitsverhältnisse bereits vor einer Woche angekündigt, dass er den Auftrag zur Regierungsbildung dem bisherigen Regierungschef Mateusz Morawiecki erteilen werde.

Polens Präsident Andrzej Duda (links) schüttelt dem Premierminister Mateusz Morawiecki die Hand, nachdem er ihn zuvor in seinem Präsidentenpalast erneut mit der Regierungsbildung beauftragt hatte
Polens Präsident Andrzej Duda (links) beauftragt den bisherigen Premierminister Mateusz Morawiecki erneut mit der RegierungsbildungBild: Leszek Szymanski/PAP/dpa/picture alliance

Und so ernannte Duda - unbeeindruckt von Holownias Appell - am Abend den Ex-Banker Morawiecki erneut zum designierten Premierminister Polens. "Ich glaube dem Premier, dass er die neue Regierung bilden kann. Er versicherte mir, dass er eine Mehrheit findet, die sein neues Kabinett unterstützt", erklärte Duda, der wie Morawiecki dem nationalkonservativen Lager entstammt. Morawiecki hat nun 14 Tage, um seine neue Regierung auf die Beine zu stellen.

Neuer Geist im Parlament

Holownia sprach sich in seiner Antrittsrede für einen neuen Führungsstil im Parlament aus. Der Sejm werde künftig weder "Dienstleistungsbetrieb für die Regierung" noch eine "Abstimmungsmaschine" sein. "Der Verfall des Staats begann mit dem Verfall des Parlaments", sagte der 47-jährige Journalist und Chef der christlich-demokratischen Partei Polen2050 und fügte hinzu: "Die Sanierung des Staats beginnt mit der Sanierung des Parlaments."

Der neue Parlamentspräsident Szymon Holownia spricht am Tag seiner Wahl in der konstituierenden Sitzung des Sejm zu den Abgeordneten
Szymon Holownia, Co-Vorsitzender des Parteienbündnisses Dritter Weg (TD) ist der neue Marschall (Präsident) des SejmBild: Czarek Sokolowski/AP/picture alliance

Seine Gruppierung war bei der Parlamentswahl zusammen mit der Bauernpartei PSL als das Bündnis Dritter Weg (TD) angetreten. Die Parteien der demokratischen Opposition - Tusks Bürgerplattform (KO), Dritter Weg (TD) und die Neue Linke hatten ihren Koalitionsvertrag am vergangenen Freitag (10.11.2023) unterzeichnet. Darin hatten sie seine Wahl zum Parlamentspräsidenten verabredet. Dieses und andere Parlamentsämter sollen nach dem Rotationsprinzip besetzt werden. Nach zwei Jahren soll ein Vertreter der Linken die Position des Sejm-Marschalls übernehmen.

Die Koalition verfügt im Abgeordnetenhaus über 248 von insgesamt 460 Sitzen und hat damit die absolute Mehrheit. Die PiS hat 196 Mandate. In der zweiten Parlamentskammer, dem Senat, ist die Mehrheit der liberal-konservativen Kräfte noch deutlicher: 66 zu 34.

Duda droht mit seinem Veto

Traditionsgemäß wohnte Präsident Duda der ersten Sitzung des Sejm bei. Seine Ansprache an die Parlamentarier enthielt widersprüchliche Signale. Er mahnte die Abgeordneten, dass sie sich gegenseitig achten sollten und versicherte, dass er mit dem neuen Parlament zusammenarbeiten wolle. "Die Tür des Präsidentenpalastes steht immer offen", sagte er und gab nach seiner Rede allen Abgeordneten in der ersten Sitzreihe die Hand. Gleichzeitig warnte er, dass er alle Versuche, seine Verfassungskompetenzen in Frage zu stellen oder zu ignorieren, nicht hinnehmen werde. "Ich werde mich mit der Rechtsbeugung nicht abfinden. Wenn ich zu der Einsicht gelange, dass eine Lösung rechtlich zweifelhaft ist, werde ich mein Veto einlegen", betonte Duda.

Morawiecki wirbt für "Polnischen Dekalog"

Morawiecki nutzte seinen Auftritt im Parlament zur Werbung in eigener Sache. Er präsentierte eine positive Bilanz seiner sechsjährigen Regierungstätigkeit und nannte die Pandemie, die Migrationskrise, den Krieg in der Ukraine sowie die Energiekrise als Grund dafür, dass "nicht alle Versprechen umgesetzt werden konnten". Gleichzeitig plädierte er für einen "Polnischen Dekalog", also für "Zehn Gebote", die als eine Grundlage für eine von ihm geführte "Koalition polnischer Angelegenheiten" dienen könnten. Die Bekämpfung der illegalen Migration sowie die Verteidigung der Souveränität seien "überparteiliche Ziele". Seit dem Wahltag (15.10.2023), als klar geworden war, dass die PiS nicht mehr allein regieren kann, versucht der Politiker, die Opposition zu spalten und einzelne Abgeordnete, vor allem aus der Bauernpartei PSL, an seine Seite zu ziehen - bisher ohne Erfolg.

Der designierte Premierminister Mateusz Morawiecki spricht im polnischen Parlament zu den Abgeordneten
Mateusz Morawiecki soll die neue Regierung bilden - doch er hat keine parlamentarische MehrheitBild: Wojtek Radwanski/AFP

Die Abstimmungsergebnisse bei der Wahl der stellvertretenden Parlamentsvorsitzenden dürften seinen Glauben an den Erfolg seiner Mission noch weiter erschüttert haben. Sowohl im Sejm, als auch im Senat waren die PiS-Kandidaten durchgefallen. Es war eine bittere Niederlage für die PiS, denn sogar die ultrarechte Konfederacja konnte ihren Vizemarschall durchsetzen.

Kaczynski flüchtet in antideutsche Rhetorik

Der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski, die Führungsfigur des national-populistischen Lagers, kann sich offenbar mit dem Machtverlust nicht abfinden. In seinen öffentlichen Stellungnahmen verschärfte er die verbalen Attacken gegen Deutschland und die Europäische Union. Tusk sei "ein Mann Deutschlands", sagte Kaczynski im Sejm und warf dessen Partei "deutsche Rüpelhaftigkeit" vor. In einer Ansprache am Tag der Unabhängigkeit am 11.11.2023 hatte der PiS-Politiker gegen die Reformpläne der EU gewettert, vor allem gegen die Erweiterung der Mehrheitsabstimmungen. Es drohe die "Vernichtung des polnischen Staats", warnte er.

PiS-Chef Jaroslaw Kazcynski sitzt während der ersten Sitzung des neu gewählten Parlaments zwischen Parteifreunden
PiS-Chef Jaroslaw Kazcynski will an der Macht festhaltenBild: Czarek Sokolowski/AP/picture alliance

"Polen kann sich in ein von Polen bewohntes Gebiet verwandeln, das von außen regiert wird. Unsere Region wird den Deutschen zufallen", so das von ihm verbreitete Schreckensszenario. Tusks Partei sei "eine deutsche, keine polnische Partei", sagte der 74-Jährige. "Wir müssen den Kampf aufnehmen, mit der Überzeugung, dass wir siegen." Er kündigte eine Konferenz "aller patriotischen Kräfte" an, die zum Anfang einer "großen gesellschaftlichen Aktion" werden soll. "Leiden, sogar sterben für das Vaterland ist schön", erklärte Kaczynski. "Das Ziel der PiS ist die Rettung der Geschlossenheit der Partei durch Selbstisolierung und Radikalisierung", analysiert Politologe Rafal Chwedoruk.

Aktivisten der Oppositionsparteien entfernen die Absperrungen vor dem polnischen Parlament
Aktivisten der Oppositionsparteien entfernen die Absperrungen vor dem polnischen ParlamentBild: Marek Antoni Iwanczuk/IMAGO

Aufbruch im und vor dem Parlament 

Obwohl die demokratische Koalition mit der Machtübernahme wahrscheinlich bis Dezember warten muss, drückt die Linke bereits jetzt aufs Tempo. Vertreterinnen der Fraktion haben dem Parlament zwei Gesetzentwürfe zugeleitet. Sie beinhalten die Zulassung der bedingungslosen Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche sowie die Straffreiheit bei der Hilfe zum Schwangerschaftsabbruch. "Wir beginnen mit der Überzeugungsarbeit und suchen Unterstützer", sagte Magdalena Biejat, Senatorin der Neuen Linken. Die neue Zeit macht sich nicht nur im Parlament bemerkbar, sondern auch davor: Zur Zeit der PiS-Regierung wurde das Sejm-Gebäude zu einer Festung ausgebaut. Metallgitter versperrten den Zugang zum Gelände, das von starken Polizeikräften bewacht war. Am Tag der ersten Parlamentssitzung verschwanden plötzlich die Sperren.

Porträt eines Mannes mit grauem Haar vor einem Regal mit Büchern
Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.