Wie gefährlich ist TikTok?
4. Februar 2023TikTok ist im Fokus: Weltweit diskutieren Politiker, ob und wie sie den chinesischen Videostreaming-Dienst, der zu einer der beliebtesten Apps unter Jugendlichen geworden ist, einschränken oder gar verbieten können.
Während die Europäische Union TikTok mit neuen Gesetzen zwingen möchte, gezielt gegen verhetzende Inhalte vorzugehen, überlegen Länder von den USA bis Japan, wie sie die App regulieren können - oder ob sie gar dem Beispiel Indiens folgen und sie komplett verbieten sollen.
Ihre Befürchtung: Chinas Regierung könnte TikTok für seine eigenen Interessen missbrauchen. Die Regierung in Peking, so die Theorie, könnte die App als eine Art trojanisches Pferd nutzen, um Zugang zu sensiblen Nutzerdaten zu bekommen oder um Desinformationen im Ausland zu streuen. Und Digitalrechtsexperten sagen, Grund zur Sorge sei durchaus gegeben.
"Bedenken wegen einer möglichen Überwachung durch das chinesische Regime sind berechtigt", sagt Estelle Massé von der Brüsseler Nichtregierungsorganisation Access Now. Gleichzeitig müsse man TikTok auch deshalb im Auge behalten, "weil es schneller wächst als jedes andere soziale Netzwerk der Welt und seine Zielgruppe sehr jung ist".
Seit Jahren steht TikToks Mutterkonzern, das chinesische Technologiekonglomerat ByteDance, wegen der Art in der Kritik, wie das Unternehmen Nutzerdaten verarbeitet. Vor allem, seit im Dezember bekannt wurde, dass ByteDance-Mitarbeitende auf die Daten westlicher Journalisten zugegriffen haben, steigt der Druck auf Behörden, die Plattform zu regulieren.
Auf Anfrage der DW erklärte eine TikTok-Sprecherin den Vorfall mit dem "Fehlverhalten einzelner Personen, die mittlerweile nicht mehr bei ByteDance beschäftigt sind". Seitdem seien die Voraussetzungen für einen Zugriff auf Nutzerdaten "erheblich verschärft" worden.
Aber obwohl TikTok-Daten in Rechenzentren außerhalb Chinas gespeichert würden, sei weiterhin ein "begrenzter Mitarbeiterzugriff" aus China heraus nötig, "um unsere globale Community zu unterstützen". Gleichzeitig betonte die Sprecherin, dass "wir nie gebeten wurden, TikTok-Nutzerdaten an die chinesische Regierung weiterzugeben, und ihr auch nie Daten zur Verfügung gestellt haben".
Wie TikTok so groß wurde
Der rasante Aufstieg der App ist einzigartig in der Geschichte des Internets. In wenigen Jahren ist TikTok vom Nischenprodukt für Playback-singende Jugendliche zu einer der weltweit führenden Social-Media-Plattformen herangewachsen, auf der User mehr und mehr auch Informationen suchen und Nachrichten konsumieren.
ByteDance brachte im Jahr 2018 TikTok auf den Markt, das es nach dem Vorbild seiner chinesischen App Douyin entwickelt hatte. Drei Jahre später, im September 2021, gab die Plattform bekannt, eine Milliarde aktiver monatlicher Nutzer zu haben - ein Meilenstein, den Facebook beispielsweise erst über acht Jahre nach seiner Gründung erreichte. Laut Download-Statistiken ist die Zahl seither weiter angestiegen; TikTok selbst macht keine Angaben zu aktuellen Nutzerzahlen.
Das Erfolgsgeheimnis der App, da sind sich Experten einig, ist seine "ForYou-Page". Es ist ein individualisierter Videostream, der für jeden User anders aussieht. Unmittelbar nach Öffnen der App beginnt seine Wiedergabe. Gleichzeitig analysiert Software im Hintergrund, was die Aufmerksamkeit von Usern fesselt.
Faktoren sind beispielsweise, wie lange sie einen Clip ansehen, bevor sie zum nächsten weiterwischen. So lernt die Software im Laufe der Zeit mehr und mehr über die User und passt den Inhalt ihres Feeds an ihre jeweiligen Interessen an.
"Im Endeffekt hat der Algorithmus der 'ForYou-Page' ein relativ plumpes Ziel", sagt Martin Degeling von der Berliner Denkfabrik Stiftung Neue Verantwortung (SNV), der TikToks Empfehlungssystem analysiert hat. "Es geht darum vorauszusagen, was bei Usern in genau diesem Moment auf Interesse stößt, um sie so möglichst lange auf der Plattform zu halten."
Kann TikTok gekapert werden?
Auch große Medien einschließlich der DW posten regelmäßig auf der Plattform. Entsprechend nutzen User die App zunehmend als Nachrichtenquelle. Und so häufen sich Warnungen, TikTok könnte missbraucht werden, um gezielt irreführende Informationenzu verbreiten. In den USA hat beispielsweise FBI-Direktor Chris Wray davor gewarnt, dass Chinas Regierung selbst auf TikTok "Inhalte manipulieren" könnte.
Laut SNV-Forscher Degeling besteht die Gefahr, "dass TikTok genutzt wird, um bewusst Desinformationen zu streuen und Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen". Aber, so betonte er auch, diese Gefahr sei seines Erachtens "nicht größer als bei anderen Plattformen".
TikTok weist die Vorwürfe zurück. Die Unternehmenssprecherin sagt, die Plattform bemühe sich, "die Verbreitung irreführender Informationen proaktiv einzugrenzen". So gebe es Partnerschaften mit Fact-Checking-Organisationen. Gleichzeitig werden seit kurzem Videos mit Warnhinweisen versehen, wenn sie von "Konten hochgeladen werden, die von Organisationen betrieben werden, deren redaktionelle Arbeit oder Entscheidungsprozesse der Kontrolle oder dem Einfluss einer Regierung unterliegen".
Gibt es sowas wie ein "TikTok-Gehirn"?
Und dann ist da die Frage, welche Auswirkungen die Nutzung von TikTok auf die psychische Gesundheit seiner überwiegend jungen Nutzer haben könnte. In den USA beispielsweise verwenden laut einer Studie der Denkfabrik Pew Research Center aus dem Jahr 2022 mittlerweile über zwei Drittel aller Teenager die App.
Manche Gesundheitsexperten warnen, die Funktionsweise von TikTok könnte ein Suchtverhalten fördern. Andere sagen, dass die kognitiven Fähigkeiten von Usern bei einer langanhaltenden Verwendung leiden könnten. Zuviel Zeit auf der App könne so zu einer geringeren Aufmerksamkeitsspanne führen oder sogar Angstzustände oder Depressionen auslösen - ein Phänomen, das als "TikTok-Gehirn" beschrieben wurde. Vor diesem Hintergrund hat China Regeln erlassen, um die Nutzung des TikTok-Pendants Douyin für Kinder unter 14 Jahren auf 40 Minuten pro Tag zu beschränken.
Doch bisher gibt es für diese Thesen noch nicht genügend wissenschaftliche Belege, so Philipp Lorenz-Spreen vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
"Wir wissen schlichtweg noch nicht, was TikTok mit Psychologie und Verhalten seiner User macht", sagt er. Dafür gebe es vor allem zwei Gründe: "Zum einen ist TikTok eine komplett neue Plattform ohne historischen Vergleich, von dem man lernen könnte", so Lorenz-Spreen. "Und zum zweiten macht es TikTok Forschern schwer, seine Wirkung zu untersuchen, weil es ihnen nur wenig Zugang zu seinen Daten gibt."
Regulierung in Sicht
Zumindest in der Europäischen Union könnte sich das bald ändern, wenn vom Herbst an schrittweise ein Gesetzespaket zur Plattformregulierung in Kraft tritt. Die neuen Regeln zwingen besonders große soziale Plattformen unter anderem dazu, gegenüber Forschern technische Details offenzulegen. Die EU hat sich noch nicht dazu geäußert, ob es TikTok zu diesen großen Plattformen zählen wird; Experten erwarten das jedoch übereinstimmend.
Auf der anderen Seite des Atlantiks stimmen Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus in diesem Monat über einen Gesetzentwurf ab, der darauf abzielt, die App vollständig zu verbieten. Wird das Gesetz verabschiedet, könnte es US-Präsident Joe Bidens Regierung den Weg dafür eben, die Plattform aus Gründen der nationalen Sicherheit landesweit zu verbieten.
TikTok selbst ist sichtlich bemüht, das zu verhindern. Lobbyisten der Firma schwärmen seit Monaten aus zu den Büros von Parlamentariern von Washington D.C. bis Brüssel, um sie davon zu überzeugen, geplante Regulierungen abzuschwächen. Gleichzeitig bereist TikTok-Geschäftsführer Shou Zi Chew verschiedene Hauptstädte der Welt, um sich dort mit politischen Entscheidernungsträgern zu treffen.
Vor dieser Charmeoffensive habe TikTok jahrelang versucht, die Grenzen bestehender Datenschutzregeln auszutesten, so Datenschutzexpertin Estelle Massé von Access Now. Das massenhafte Sammeln von Daten sei übliche Praxis aller großen sozialen Netzwerke.
"Die Tatsache, dass wir immer noch Fragen zu TikTok haben, ist trauriger Industriestandard, wenn man so will", sagt Massé. Umso wichtiger sei es deshalb, dass Regierungen bei ihren Überlegungen zu TikTok nicht aus den Augen verlören, was andere Plattformen wie Instagram täten.
"TikTok ist im Auge des Sturms, und das aus gutem Grund", sagt Massé. "Aber wir sollten dadurch anderen Plattformen nicht die bequeme Möglichkeit geben, sich hinter TikTok zu verstecken, während sie gleiche oder ähnliche Praktiken anwenden."