USA verliert an Gewicht
7. Dezember 2006Das Jahr 2006 war ein spannendes Jahr für die Weltwirtschaft. Denn während die US-Konjunktur langsam wieder abflaut, kommt Europa erst richtig in Schwung. Und Deutschland ist nicht mehr das Schlusslicht in Europa, sondern setzt sich an die Spitze des Konjunkturzuges. Damit hatte noch im Frühjahr keiner gerechnet, auch nicht Heino von Meyer von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): "Das eine Bein - die Außenwirtschaft - ist kräftig und belastbar, doch das andere Bein, die Binnennachfrage, ist noch schwach. Deutschland geht weiter am Stock", erklärte er damals.
Diesen Stock haben die deutschen Konsumenten mittlerweile abgelegt, denn auch die private Nachfrage zieht langsam an. Hamsterkäufe als Folge der für ab Januar 2007 beschlossenen Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf 19 Prozent? Oder ein Stimmungsumschwung, den das Fußball-Sommermärchen bewirkt hat? Das zumindest glaubt Petra Hedorfer, Vorsitzende der Deutschen Zentrale für Tourismus: "90 Prozent der befragten Gäste fühlen sich willkommener in Deutschland. Und es kamen viele, die das erste Mal in Deutschland waren und die jetzt schon unsere Fans sind."
Arbeitslosenzahlen sanken unter vier Millionen
Volker Treier vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag spricht sogar von 60.000 neuen Arbeitsplätzen und 0,3 Prozent zusätzlichem Wachstum, die die Fußball-WM gebracht haben soll. "Im Jahr 2007 werden davon noch 20.000 Arbeitsplätze übrig bleiben, aber der Imagegewinn und die verbesserte Infrastruktur machen deutsche Standorte attraktiver. Das wären längerfristig positive Effekte", sagt er.
Positive Effekte nach langer Durststrecke haben sich auch endlich auf dem Arbeitsmarkt eingestellt: Erstmals seit vier Jahren sank dort die Zahl der Arbeitslosen wieder unter die Viermillionen-Grenze. Die zusätzlichen Steuereinnahmen freuen auch Bundesfinanzminister Peer Steinbrück: "Es gibt diesen Spruch, dass das schöne Gefühl, Geld zu haben, nicht so intensiv ist wie das saublöde Gefühl, kein Geld zu haben. Daher genieße ich im Augenblick die Tatsache, dass sich die Situation sehr viel besser entwickelt, als wir gedacht haben."
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Auch die Ölindustrie hat das Jahr genossen: Im Januar drehte der staatliche russische Öl- und Gaslieferant Gazprom im Streit um höhere Preise der Ukraine den Gashahn zu - und weckte damit Europas Energie-Ängste. Der lange Winter und der Öldurst Chinas trieben den Ölpreis auf die Rekordmarke von 78,40 Dollar pro Barrel, der erst im Herbst wieder auf rund 60 Dollar fiel, aber trotzdem die Bilanzen der Ölkonzerne vergoldete.
Goldene Bilanzen weisen in diesem Jahr zahlreiche Unternehmen auf, und wer nicht weiß, wohin mit dem Geld, der kauft ein – vorzugsweise andere Unternehmen. Der Stahlriese und Weltmarktführer Mittal Steel kaufte die Nummer Zwei, den luxemburgischen Stahlkonzern Arcelor nach monatelanger Übernahmeschlacht für 25,6 Milliarden Euro. Der deutsche Energieriese E.ON hat bereits 37 Milliarden Euro für den spanischen Versorger Endesa geboten, doch noch stellt sich die spanische Regierung quer. Der Chemieriese Bayer kaufte für rund 17 Milliarden Euro den Berliner Pharmakonzern Schering, der US Telefonkonzern AT&T übernahm für 67 Milliarden Dollar den Konkurrenten Bell South.
Neben Erfolgen gab es auch Desaster
Doch nicht alles gelingt: Die Liste der Pleiten, Pech und Pannen führt der europäische Flugzeugbauer Airbus an, der die Auslieferung des Supervogels A 380 immer wieder verschieben musste. Das ärgerte die Kunden und schockierte die Börse und dem Mutterkonzern EADS droht nun ein finanzielles Desaster. Dennoch verbreitete EADS-Co-Chef Thomas Enders Zweckoptimismus: "In jeder Krise schlummern auch Möglichkeiten. Wir wollen industrielle Prozess bei Entwicklung, Herstellung bis hin zur Endmontage verbessern.
Auch Siemens musste harte Kritik einstecken. Der Verkauf seiner Handysparte an den taiwanesischen Benq-Konzern endet nach nur einem Jahr mit einem Desaster. Benq meldete bei den deutschen Werken Insolvenz an und damit waren 3000 Arbeitsplätze weg. Viele ehemalige Mitarbeiter werfen Siemens vor, sich mit dem Verkauf einfach aus der Affäre gezogen zu haben. Sie hätten erst die Löhne gekürzt und die Arbeitszeiten verlängert und sich dann aus der Verantwortung gestohlen. Als Staatsanwälte eine Razzia bei Siemens in München machen, erfahren sie auch noch von schwarzen Kassen für Schmiergeldzahlungen im Ausland - der Schaden wird auf 200 Millionen Euro beziffert.
Mannesmann-Prozess gegen Millionenzahlungen eingestellt
Das bleiben jedoch nicht die einzigen Schlagzeilen. Am Tag der Razzia in München wird gegen den ehemaligen Arbeitsdirektor von Volkswagen, Peter Hartz, Anklage wegen Untreue in 44 Fällen erhoben. Wegen Untreue mussten sich auch Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann und fünf weitere Angeklagte im Düsseldorfer Mannesmann-Prozess verantworten. Ihnen wurde vorgeworfen, unrechtmäßig 57 Millionen Euro Abfindungen und Prämien an ehemalige Manager des Mannesmann Konzerns gezahlt zu haben. Das Verfahren wurde gegen Zahlung von Geldbußen in Millionenhöhe eingestellt. Der Verteidiger von Josef Ackermann, Eberhard Kempf, glaubt, dass deutsche Manager in Zukunft mit Prämienzahlungen vorsichtiger sein werden und "solche Entscheidungen sorgfältiger getroffen, sorgfältiger dokumentiert werden, als sie es bis dahin worden sind."
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Andere Entscheidungen hätten sich in diesem Jahr wohl auch viele Arbeitnehmer gewünscht. Trotz Milliardengewinn kündigt der Versicherungskonzern Allianz im Juni den Abbau von 7500 Jobs an. Auch France Telecom streicht nach einem Milliardengewinn 17.000 Stellen - gut acht Prozent der gesamten Belegschaft. Nicht wegen Milliardengewinnen, sondern Verlusten, will sich der zweitgrößte US-Autobauer Ford von bis zu 30.000 Mitarbeitern trennen. Die großen amerikanischen Autos lassen sich schwer verkaufen. Auch General Motors und Chrysler darben, während die Konkurrenz aus Japan und Deutschland Marktanteile gewinnt.
Auch in anderen Bereichen gibt es in den USA Einbrüche. Auf dem Immobilienmarkt werden immer mehr Häuser unverkäuflich oder finden nur unter Preis einen neuen Besitzer. Doch Börsianer wie David Wyss, Chefökonom von Standard & Poor's, glauben nicht, dass es mit der amerikanischen Konjunktur vorbei ist: " Wir glauben an eine sanfte Landung. So wie 1995/96, als die Wirtschaft etwa ein Jahr lang nur ein Wachstum von zwei Prozent verbuchte." Die Börse scheint ihm Recht zu geben, am 18. Oktober nimmt der amerikanische Dow Jones Index erstmals die Marke von 12.000 Punkten. Trotzdem bleiben die Kritiker. Rodrigo de Rato, Direktor des Internationalen Währungsfonds IWF, ist skeptisch, ob die USA weiterhin die Rolle der Konjunkturlokomotive spielen können: "Der weltweite Konjunkturzyklus könnte seinen Höhepunkt erreicht haben. Die größte Hoffnung, den Zyklus verlängern zu können, liegt in der Ausweitung des Welthandels." Wenn das nicht gelinge, seien die Aussichten nicht gut.
Indien ist die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt
Dass die USA im Vergleich zu Ostasien und Europa an Gewicht verlieren, lässt sich am Dollarkurs ablesen. Anfang des Jahres kostete 1 Euro 1,17 Dollar, Anfang Dezember schon 1,33 Dollar. Doch auch wenn sich die Gewichte innerhalb der Weltwirtschaft verschieben, muss das nicht zwangsläufig das Ende des weltweiten Konjunkturzyklus bedeuten. Denn immerhin ist das Wachstum in Ostasien stabil und dynamisch, und mit Indien kommt ein weiterer Global Player ins Spiel. Innerhalb von 15 Jahren hat sich der Subkontinent auf Platz zehn in der Rangfolge der größten Volkswirtschaften hochgearbeitet und hat eine gut verdienende Mittelschicht von 200 Millionen Menschen herausgebildet.
Jürgen Fitschen, Deutsche-Bank Vorstandsmitglied und Mitvorsitzender der Deutsch-Indischen Beratungsgesellschaft glaubt aber, dass Indien sich nicht ausschließlich auf den Dienstleistungssektor konzentrieren könne, weil dieser nicht genügend Arbeitsplätze schaffen werde: "60 Prozent der Inder leben auf dem Dorf, sie nehmen nicht teil an dem, was wir immer bewundern im Augenblick. Jede Regierung in Indien wird rausgeschmissen, die es nicht schafft, diesen Menschen Teilhabe zu verschaffen an den Errungenschaften." Fitschen spricht damit ein Hauptproblem der Weltwirtschaft an: Den steigenden Abstand zwischen Arm und Reich zu verkleinern, ohne noch mehr schädliche Treibhausgase in die Luft zu jagen.
Nicholas Stern: Klimaschäden werden teuer
Der Stern-Report des ehemaligen Weltbank-Chefökonomen und jetzigen Beraters der britischen Regierung, Nicholas Stern, setzt auf ökonomische Anreize. Er glaubt, wer jetzt in Klimaschutz investiert, kann richtig Geld verdienen; wer den Klimawandel ignoriert, wird bis zu 20 Prozent seines Bruttosozialprodukts für die Bekämpfung von Klimaschäden ausgeben müssen. Regierungschef Tony Blair hat den Stern-Report als das wichtigste Dokument bezeichnet, das in seiner fast zehnjährigen Amtszeit veröffentlicht wurde. Er glaubt, dass die Folgen für die Erde ein Desaster sind, wenn die Wissenschaft Recht behält: "Und dieses Desaster spielt nicht in einer fernen Science-Fiction-Zukunft, sondern während WIR leben."